Tai Chi Chuan: Wie am Himmel vorbeiziehende Wolken

Ob zur Entspannung, als Therapie oder Funktionsgymnastik - Tai Chi Chuan wird auch bei uns immer beliebter. Die ruhigen, fließenden Bewegungen wirken sich positiv auf Körper und Seele aus. Wer einige Minuten am Tag übt, gewinnt Ruhe und Kraft für den Alltag. Morgens zwischen 6.00 und 7.00 Uhr kann man in vielen chinesischen Parks junge wie alte Menschen beobachten, die sich im Zeitlupentempo tänzerisch bewegen. Die Übenden sind ganz in sich versunken, und die Bewegungen strahlen eine angenehme Ruhe aus, wie langsam am Himmel vorbeiziehende Wolken oder ein träge dahinfließender Fluß. Selbst im modernen China ist die traditionelle Bewegungskunst noch weit verbreitet. Die Menschen schätzen die Übungen, um Ruhe und Kraft für den Alltag zu gewinnen.

Langsame, fließende Bewegungen sind typisch für Tai Chi Chuan. In China haben sich im Laufe der Jahrhunderte genau festgelegte Bewegungsabläufe herauskristallisiert, die zu sogenannten Formen aneinandergefügt wurden. Der Tai-Chi-Übende "durchtanzt" diese Formen alleine für sich und ohne Pausen. So bleibt er über mehrere Minuten in einem kontinuierlichen Bewegungsfluß. Seine Bewegungen sehen aus, als ob er in der Luft schwimmen würde. Die Ästhetik der Übungen wirkt auf viele Beobachter faszinierend und regt an, Tai Chi Chuan selbst einmal auszuprobieren.

Tai Chi Chuan: Die Bewegung kommt von innen

Doch Tai Chi Chuan ist nicht nur eine äußerlich ansprechende Bewegungskunst. Die Ästhetik kann sich überhaupt erst entwickeln, weil die Bewegungen von innen gesteuert werden. Um die Formen richtig auszuführen, muß der Übende mit seiner ganzen Aufmerksamkeit bei der Bewegung sein. Gerade die Kompliziertheit der Übungen zwingt den Anfänger dazu, sich ganz auf sein Tun zu konzentrieren. Innere und äußere Handlungen stehen dabei miteinander im Einklang. So erfolgen die Bewegungen in Harmonie mit dem eigenen Atem und mit einem Spannungswechsel von Hand-, Arm- und Beinmuskulatur. Die Gelenke werden ständig geöffnet und geschlossen, wobei die Ellenbogen aber nie richtig durchgedrückt werden. Dies ergibt das runde Bild aller Haltungen und Positionen. Alle Bewegungen erfolgen aus der Zentrierung heraus. Der Übende ist mit seiner Aufmerksamkeit im Energiezentrum des Unterbauchs, "Tan Tien" genannt. Jede Bewegungs- und Richtungs-änderung erfolgt aus diesem Energiezentrum heraus. Das Becken führt die Bewegung an, und alle Bewegungsimpulse kommen aus der Mitte des Körpers.

Tai Chi Chuan: Wohltuend für den ganzen Körper

Die chinesische Symbolik von Yin und Yang strukturiert die Bewegungen. Die Tai-Chi-Formen beinhalten einen ständigen Wechsel von Anspannung (Yang) und Entspannung (Yin), Vorwärtsdrängen (Yang) und Sich-Zurückziehen (Yin) und so weiter. Tai Chi kann daher auch als Yin-Yang-Bewegungskunst bezeichnet werden. Tai Chi Chuan stammt ursprünglich aus den Heil- und Atemübungen der Traditionellen Chinesischen Medizin. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese mit der fernöstlichen Kampfkunst verbunden. Es haben sich verschiedene, an Familientraditionen orientierte Stilrichtungen entwickelt. Am verbreitetsten ist der Yang-Stil. Er wird auch hierzulande häufig bevorzugt, weil er großzügige und raumgreifende Bewegungen sowie einen kontinuierlichen Bewegungsfluß beinhaltet. Die Bedeutung des Tai Chi Chuan als Kampfkunst hat im 20. Jahrhundert allmählich abgenommen, wohingegen der Gesundheitsaspekt immer wichtiger geworden ist. Aus körpertherapeutischer Sicht ist Tai Chi Chuan eine sorgfältig ausgearbeitete Heilgymnastik, die sich wohltuend auf den ganzen Körper auswirkt. Daher wird es auch bei uns zunehmend in der Therapie und Rehabilitation von chronischen Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Rückenproblemen eingesetzt. Besonders wirksam ist Tai Chi Chuan auch, um Krankheiten vorzubeugen. Der Übende wird sensibel für den eigenen Körper und die eigene Bewegungsweise und kann die Signale seines Organismus besser verstehen und deuten. Darüber hinaus wirken sich die Bewegungen positiv auf das Herz-Kreislaufsystem und den Bewegungsapparat mit seinen Knochen, Knorpeln, Bändern, Sehnen und Muskeln aus. Besonders in Kombination mit einem gesunden Lebensstil und einer sinnbejahenden Lebenseinstellung sind erhebliche gesundheitsfördernde Wirkungen zu erwarten. Ein weiterer Vorteil ist, daß Tai Chi Chuan nach einer längeren Phase des Anlernens zu jeder Zeit und an jedem Ort nach Lust und Laune ausgeübt werden kann. Vermutlich wird sich daher Tai Chi Chuan - ähnlich wie Yoga - auch in den westlichen Ländern zunehmend verbreiten.

Mit Schwert und Stock

Wer einmal mit Tai Chi Chuan angefangen hat, entdeckt bald, daß man ein Leben lang etwas dazulernen kann. Neben den Solo-Formen gibt es auch gut ausgebaute Partnerübungen. Hier werden die Bewegungsprinzipien des Yin und Yang von zwei Personen ausgeführt: Der eine schiebt beispielsweise mit der Hand nach vorn, der andere zieht sich zurück. Vorwärtsdrängende und empfangende Energien ergänzen einander und befinden sich in ständigem Wechsel und Wandel. Die Partnerübungen eröffnen interessante Formen und sehr schöne Bewegungsabläufe. Weitere Tai-Chi-Varianten werden mit stilisierten Waffen wie Schwert, Stock, Fächer oder Säbel ausgeführt. Chinesen praktizieren alle möglichen Varianten tolerant nebeneinander. Niemand meint, sein Stil wäre der Bessere. Auch westliche Sportarten wie Joggen oder Fußball stehen gleichberechtigt neben fernöstlichen Bewegungsformen, ohne daß sie sich gegenseitig den Wert absprechen.

Tai Chi Chuan ist für Sportliche und Untrainierte gleichermaßen geeignet

Um seiner Gesundheit etwas Gutes zu tun, reicht es völlig aus, jeden Tag einige Bewegungen auszuführen. Ungefähr 20 Minuten Tai Chi Chuan täglich, in einem stillen Raum oder Park ausgeführt, lassen den Alltag in einem anderen Licht erscheinen. Tai Chi Chuan kann jeder erlernen - ob alt oder jung, sportlich oder unsportlich. Für jeden wird es seine eigene Wirkung entfalten und zur praktischen Lebenshilfe werden. Die Voraussetzung hierfür ist, daß man offen für die Eigenart dieser Bewegungsform wird und bereit ist, täglich zu üben. Tai Chi Chuan ist ein Weg, der entsteht, wenn man ihn geht.

LITERATUR:
MOEGLING. B. U. K.: Tai Chi Chuan für Einsteiger. Goldmann, München 1997
MOEGLING, K. (Hrsg.): Tai Chi Chuan und Gesundheit/Krankheit. Sport und Buch Strauß, Köln 1997

Quelle: Moegling, B.; Moegling, K.: UGB-Forum 5/98, S. 269-272

Dieser Beitrag ist dem UGB-Archiv entnommen.

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