Entwarnung für Vollkorn
Ernährungswissenschaftler und Beratungsfachkräfte sind sich einig: Produkte aus dem vollen Korn wie Vollkornbrot, Vollkornnudeln oder Naturreis liefern wertvolle Ballaststoffe, Mineralstoffe und Vitamine und wirken sich daher positiv auf die Gesundheit aus.
Vereinzelt gibt es immer mal wieder Stimmen, wie z. B. die vom Lebensmittelchemiker Udo Pollmer, die vor dem Verzehr von Vollkorn-Produkten warnen. Verschiedene Medien (Zeitschriften, TV oder Onlinemedien) greifen diese in der Hoffnung auf Schlagzeilen bzw. Einschaltquoten unkritisch auf und verunsichern viele Verbraucher. Der Verband für Unabhängige Gesundheitsberatung e. V. (UGB) stellt klar, dass von der Kritik nur wenig zu halten ist.
Vollkorn-Produkte: Mineralstoffbindung durch Phytinsäure überbewertet
Ein Vorwurf lautete, dass der Verzehr von Vollkorn-Produkten häufig zu einem Zinkmangel führe. Als Begründung wird die Mineralstoff bindende Phytinsäure angeführt, die in den Randschichten von Getreide sitzt. Tatsächlich bildet Phytinsäure mit Eiweiß und Mineralstoffen wie Eisen, Calcium oder Magnesium sowie Spurenelementen wie Kupfer, Zink oder Mangan Komplexe - so genannte Phytate. Im Vergleich zu Produkten aus Weißmehl liefert jedoch nur das volle Korn überhaupt relevante Mengen an wertvollen Mineralstoffen. Die Gießener Vollwert-Ernährungsstudie mit Schwangeren zeigte, dass Vollwertköstlerinnen besser mit Zink, anderen Mineralstoffen und Vitaminen versorgt sind als Mischköstlerinnen. Auch eine Studie, bei der die Zinkversorgung von Vegetariern mit der von Mischköstlern verglichen wurde, ermittelte eine etwa 30 Prozent höhere Zinkaufnahme der Vegetarier. Das glich die geringere Verfügbarkeit von Zink aus pflanzlichen Lebensmitteln aus, so dass die Zinkversorgung von Vegetariern und Mischköstlern unterm Strich gleich war. Verschiedene küchentechnische Verfahren wie Einweichen, Keimen oder Teigzubereitung können den Phytatgehalt zudem vermindern. Bei Brot aus Roggenvollkornmehl und -schrot lässt sich unabhängig von der Art der Sauerteigführung ein vollständiger Phytinsäureabbau nachweisen. Auch in Weizenvollkornbroten aus Hefeteig ist immerhin die Hälfte der unerwünschten Verbindung abgebaut.
Untersuchungen belegen zudem, dass beim Einweichen von Getreideschrot über Nacht (ca. 10 Std.) je nach Vermahlungsgrad und Getreideart etwa 20 Prozent des Phytins gespalten werden. Je feiner das Schrot, je niedriger der pH-Wert und je länger die Einweichzeit, umso mehr Phytin wird abgebaut. Die geringe Phytinreduktion als Argument gegen Frischkornmüsli anzuführen und stattdessen zu erhitzten Flocken oder Müslimischungen zu greifen, stellt zumindest hinsichtlich des Phytingehaltes die schlechtere Alternative dar. Denn erhitzte Flocken oder Müslimischungen liefern immer den vollen Gehalt an Phytin. Ob diese Verbindung überhaupt schädlich wirkt, ist ohnehin umstritten. Denn die Phytinsäure zeigt auch gesundheitliche Vorteile: Sie wirkt sich regulierend auf den Blutzuckerspiegel aus und scheint eine günstige Rolle bei erhöhtem Blutfettspiegel zu spielen. Sehr wahrscheinlich senkt eine hohe Phytatzufuhr außerdem das Risiko für Dickdarmkrebs.
Vollkorn: Enzyminhibitoren vermutlich sogar gesundheitsfördernd
Vollkorn soll zudem durch so genannte Enzyminhibitoren eine vollständige Stärkeverdauung verhindern. Bakterien im Dickdarm würden die teilweise unverdaute Stärke dann zu hochgiftigen Fuselalkoholen vergären, die Darm und Leber schädigten. Tatsächlich gibt es bestimmte Enzyminhibitoren im unerhitzten Weizenkorn, die möglicherweise die Stärkeverdauung bremsen. Diese Wirkung wird jedoch eher positiv bewertet. Denn dadurch wird der Blutzuckeranstieg verlangsamt, was insbesondere für Diabetiker von Vorteil ist. Außerdem zeigen z. B. Vegetarier, die mehr Enzyminhibitoren aufnehmen, ein geringeres Risiko für Brust-, Prostata- und Dickdarmkrebs.
Die Bildung von Fuselalkoholen wird zwar immer wieder diskutiert, doch negative Folgen für die Gesundheit sind wissenschaftlich nicht belegt. Nur bei einem erkrankten Darm ist denkbar, dass sich die Mikroflora derart verschiebt, dass bestimmte Bakterienarten Fuselalkohole produzieren könnten.
Vollkorn: Lektine und Alkylresorcine für Gesunde kein Problem
Gewarnt wird derzeit auch vor Lektinen, insbesondere aus dem Weizenkeim. Diese Eiweißverbindungen sollen Entzündungen im Darm hervorrufen, die Durchlässigkeit der Darmwand verstärken und das Gleichgewicht der Darmflora stören. Dadurch können angeblich Bakterien und andere Fremdproteine ins Blut gelangen und Allergien und Autoimmunerkrankungen auslösen. Lektine kommen als sekundäre Pflanzenstoffe in einer Vielzahl von Obst- und Gemüsearten, in Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Getreide vor. Sie dienen den Pflanzen als natürliche Abwehrstoffe vor Fraßfeinden und können beim Menschen Unverträglichkeitsreaktionen hervorrufen. Die meisten Lektine verlieren durch Hitze, das heißt beim Kochen, Backen usw. ihre Aktivität. Seit langem ist beispielsweise bekannt, dass grüne Bohnen und Hülsenfrüchte nur erhitzt verzehrt werden dürfen.
Die angeblich negativen Folgen von hitzestabilem Weizenkeimlektin werden unter anderem mit einer Studie an Mäusen begründet. Die Nager, die sehr große Mengen Weizenkeimlektin erhielten, zeigten nach zehn Tagen eine vergrößerte Bauchspeicheldrüse und stark geschädigte Dünndarmschleimhäute. Bisher gibt es jedoch keine Beweise, dass Lektine auch beim Menschen Krankheiten verursacht, vor allem bei den üblichen Verzehrsmengen. In Fachkreisen wird aber diskutiert, ob Lektine eventuell einige bereits bestehende Krankheiten verstärken können. Dazu zählen beispielsweise Rheuma oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn.
In manchen Kritiken wird vor Alkylresorcinen gewarnt, speziellen Getreideinhaltsstoffen. Diese Substanzen sind allerdings hitzeempfindlich und werden durch herkömmliche Verfahren(z.B. Brotbacken) zerstört und inaktiviert. Alkylresorcine sind genauso wie Lektine sekundäre Pflanzenstoffe und natürliche Abwehrstoffe. Roggen, der unter den Getreiden den höchsten Gehalt an Alkylresorcinen hat, sollte tatsächlich nur in kleinen Mengen roh verzehrt werden. Ohnehin wird auch in der Vollwert-Ernährung rohes Getreide nur in geringen Mengen empfohlen. In einer Frischkornmahlzeit sollte der Getreideanteil 20 bis 40 Gramm pro Portion nicht überschreiten. Besonders geeignet sind hier Dinkel und Hafer. Allerdings haben Alkylresorcine in kleineren Mengen auch gesundheitsfördernde Eigenschaften. Nachgewiesen sind eine antithrombotische (gerinnungshemmende) und eine entzündungshemmende Wirkung.
Das Fazit des UGB: Vollkorn bleibt empfehlenswert
Der UGB empfiehlt, sich nicht von unseriösen und vereinfachten Aussagen verunsichern zu lassen. Die Abbildung des Totenkopfsymbols aus Getreidekörnern in einer Publikumszeitschrift ist nicht nur schlechter Geschmack, sie verbreitet Angst - und noch dazu völlig unbegründete. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind Vollkornprodukte für gesunde Menschen aufgrund ihrer wertvollen Inhaltsstoffe uneingeschränkt positiv zu bewerten. Zahlreiche Studien haben bestätigt, dass das Risiko für zahlreiche Krankheiten bei Vollkornliebhabern deutlich geringer ist. So hatten Personen, die drei Portionen Vollkorn pro Tag verzehrten, ein um etwa 33 Prozent geringeres Risiko für Krebs als Menschen, die sehr wenig bzw. gar keine Vollkornprodukte aßen. Ähnlich sieht es bei dem Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall sowie Diabetes Typ 2 aus. Das bedeutet, dass ein erhöhter Genuss von Produkten aus dem vollen Korn die Gesundheit fördert und nicht etwa schädigt.
Nicht vergessen werden sollte darüber hinaus:
Vollwert-Ernährung bedeutet mehr als Vollkorn-Ernährung
Zu einem vollwertigen Speiseplan gehören neben 750-1500 Gramm frischem sowie gegartem Gemüse und Obst täglich etwa 150-200 Gramm Getreide in Form erhitzter Vollkorn-Produkte wie Brot, Nudeln oder Gebäck. Wer es mag und verträgt, kann zusätzlich 20-50 Gramm Rohgetreide in Form einer Frischkornmahlzeit verzehren. Diese Empfehlung gilt auch weiterhin.
Quelle: Entwarnung für Vollkorn. Franz W. UGB-FORUM 2/02, S. 108,
aktualisiert April 2014