Was heißt hier zu dick?
Etwa jeder zweite Deutsche gilt als zu dick. Doch sind ein paar Pfunde mehr auf der Waage wirklich so schädlich? Und wer legt eigentlich fest, was normal, dick oder dünn ist?
Amerikanische Wissenschaftler erklären Übergewicht gerne zur Todesursache Nummer eins. Angeblich würden durch Übergewicht und Fettleibigkeit mehr US-Bürger sterben als durch Zigarettenrauch. Doch wer die Zahlen genauer anschaut, stellt fest, dass die Gleichung „dick gleich kürzere Lebenserwartung“ nicht aufgeht. Im Gegenteil: Wer nur einige Pfunde zu viel auf die Waage bringt, sprich einen Body Mass Index (BMI) zwischen 25 und 29 hat, kann sogar mit einem längeren Leben rechnen als sogenannte Normalgewichtige. Vor allem ältere Menschen profitieren von ein paar Pfunden zuviel. Offenbar steigt erst bei deutlicher Fettleibigkeit das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zu sterben.
Gewicht nach Formel
Seit Mitte der 1990er Jahre wird weltweit der Body Mass Index zur Beurteilung des Körpergewichts herangezogen. Mit dieser Kennzahl für das Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße werden Erwachsene in unter-, normal- und übergewichtig oder adipös eingeteilt. Die Formel löste den bis dahin gültigen Broca-Index ab. Der BMI wurde zwar schon vor 150 Jahren entwickelt, doch erst vor rund zwanzig Jahren von der Weltgesundheitsorganisation WHO aus der Schublade gezogen. Urheber der Formel ist der belgische Mathematiker und Astronom Adolphe Quetelet (1796-1874). Ihm ging es nicht darum, Übergewichtige zu ermitteln, sondern er wollte zu statistischen Zwecken eine Formel für einen durchschnittlichen Menschen entwickeln.
Perzentilen bei Kindern
Während bei Erwachsenen das Übergewicht einheitlich über den BMI bestimmt wird, lassen sich für Kinder und Jugendliche keine festen Werte angeben. Denn hier ändert sich durch Wachstum und Pubertät die Körperzusammensetzung so stark, dass Alter und Geschlecht besonders berücksichtigt werden müssen. Um festzustellen, ob ein Kind übergewichtig oder adipös ist, beziehen Kinderärzte daher den BMI auf alters- und geschlechtsspezifische Referenzwerte, die in Perzentilen eingeteilt sind. Ein BMI auf der 90. Perzentile bedeutet beispielsweise, dass 90 Prozent der Kinder gleichen Alters und Geschlechts leichter sind als das betreffende Kind. Oberhalb der 90. Perzentile gelten Kinder als übergewichtig, über der 97. Perzentile als adipös.
BMI ist nur ein Anhaltspunkt
Die BMI-Formel ist so griffig und bequem zu berechnen, dass in vielen Veröffentlichungen und statistischen Erhebungen außer Acht gelassen wird, dass der BMI nur einen von mehreren Anhaltspunkten zur Beurteilung des Körpergewichts liefert. Um festzustellen, ob jemand wirklich zu viele Pfunde mit sich herumschleppt, müssen weitere Parameter herangezogen werden. Einer der wichtigsten ist der Anteil an Fettgewebe im Körper. Leistungssportler mit viel Muskelmasse können beispielsweise schnell einen BMI von 25 überschreiten, ohne dass sie jemand als übergewichtig bezeichnen würde. Bei sehr kleinen und sehr großen Menschen stößt die Formel ebenfalls an ihre Grenzen und wird ungenau. Bei kleinen Menschen mit normaler Figur liefert der Index eher zu niedrige Werte und bei sehr großen Personen zu hohe. Für Asiaten mit ihrem kleinen, eher leichten Körperbau müssten daher andere Einteilungen gelten als etwa für tendenziell kräftig gebaute Afroamerikaner. Auch die Verteilung des Fettes spielt eine entscheidende Rolle. So ist das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes höher, wenn sich die Fettzellen am Bauch ansiedeln, wie bei den sogenannten Apfeltypen. Fettpolster an Hüfte und Oberschenkel, wie sie bei Birnentypen vorkommen, sind dagegen weniger problematisch. Denn die Fettzellen am Bauch sind wesentlich stoffwechselaktiver und setzen mehr Fettsäuren bzw. Botenstoffe frei, die das Risiko für Herzinfarkt und Diabetes erhöhen können. Frauen mit Polstern an den Hüften kommen sich zwar häufig zu dick vor, sind aber aus medizinischer Sicht nicht besonders gefährdet. Um die Fettverteilung festzustellen, wird der Taillenumfang gemessen. Beträgt der Umfang bei Männern mehr als 102 cm und bei Frauen mehr als 88 cm, spricht man von einem Apfeltyp mit einer ungünstigen abdominalen Fettverteilung.
Klassifikation | BMI |
Untergewicht | < 18,5 |
Normalgewicht | 18,5-24,9 |
Übergewicht | 25,0-29,9 |
Adipositas Grad I | 30,0-34,9 |
Adipositas Grad II | 35,0-39,9 |
Adipositas Grad III | > 40 |
Rundliche Senioren leben länger
Das Alter darf bei der Beurteilung des Gewichts ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Denn im Laufe des Lebens nimmt bei den meisten Menschen das Gewicht bis zum Ende des sechsten Lebensjahrzehnts leicht, aber stetig zu. Ein Grund dafür ist, dass die Muskelmasse des Körpers mit zunehmenden Alter ab- und der Fettanteil zunimmt. Dadurch sinkt der Energiebedarf. Denn Muskeln benötigen relativ viel Energie, Fettzellen hingegen verbrennen nur wenig. Dementsprechend verbraucht ein über 50-jähriger Mensch etwa 200-300 Kalorien weniger als ein junger. Da sich die Essgewohnheiten im Alter
meist nicht ändern, können sich schnell ein paar Pfunde mehr ansammeln. Zudem führt die Abnahme der Körperlänge mit zunehmendem Alter zu höheren BMI-Werten. Bei 70 Jahre alten Männern erhöht sich der BMI dadurch um durchschnittlich 0,7 Punkte, bei Frauen sogar um 1,6. Dieser altersbedingte Anstieg darf nicht als gesundheitsschädliche Gewichtszunahme fehlinterpretiert werden. Möglicherweise hat höheres Gewicht im Alter sogar einen biologischen Sinn. Verschiedene Studien haben festgestellt, dass ein paar Pfunde mehr auf den Rippen älteren Menschen ganz gut tun. So hatten 60- bis 69-jährige Männer die höchste Lebenserwartung, wenn sie einen BMI von 26 aufwiesen, bei Frauen derselben Altersklasse zeigte sich ein BMI von knapp über 27 als günstig. Wenn im Alter langwierige Krankheiten oder Appetitmangel auftreten, können etwas üppiger ausgestattete Senioren besser von ihren Reserven zehren. Das nationale Forschungsinstitut der USA hat daher bereits 1989 eine BMI-Einteilung empfohlen, die das Alter berücksichtigt (siehe Tab. 2).
Zieht man die altersbezogene Einteilung des BMI heran, sehen die Zahlen zu Übergewicht in Deutschland weit weniger dramatisch aus wie bislang. Dann sind deutlich weniger als 66 Prozent aller Männer und 50 Prozent aller Frauen als zu dick einzustufen. Adipös mit einem BMI von über 30 ist im Schnitt dennoch jeder fünfte Erwachsene in Deutschland. In den letzten 20 Jahren ist der Anteil der erwachsenen Adipösen aber nur leicht gestiegen. Solche Zahlenspiele mögen für den Einzelnen unbedeutend sein, sie haben jedoch weitreichende wirtschaftliche Folgen. Denn je größer die Zahl der Übergewichtigen ist, desto mehr Anti-Fett-Pillen und Formulapräparate werden verkauft.
Alter (Jahre) | BMI |
19-24 | 19-24 |
25-34 | 20-25 |
35-44 | 21-26 |
45-54 | 22-27 |
55-64 | 23-28 |
ab 64 | 24-29 |
Nicht jeder muss abnehmen
Im Gegensatz zu leichtem Übergewicht gilt es bei Adipositas als erwiesen, dass gesundheitliche Schäden auftreten können. Von Diabetes Typ 2 über Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck, Gelenkbeschwerden bis hin zu bestimmten Krebsarten reicht die Liste der Erkrankungen, die von Adipositas begünstigt oder gar verursacht werden. Doch ab wann genau das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und anderes ansteigt, darüber sind sich Wissenschaftler im Unklaren. Offenbar führt erst ein BMI von über 30 zu deutlichen Gesundheitsschäden. Ob mäßiges Übergewicht mit einem BMI von 25 bis 30 überhaupt gewichtsbedingte Schäden auslöst, ist dagegen unsicher. Verschiedene Studien kommen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Individuelle Faktoren wie Veranlagung, Lebensstil, Gesundheitsverhalten und Alter haben hier vermutlich einen großen Einfluss. Eine sportlich aktive Frau mit einem BMI von 30, die sich vernünftig ernährt, hat sicher ein geringeres Erkrankungsrisiko als eine inaktive Raucherin mit einem BMI von 20. Allgemeine Aussagen, wie jedes Kilo zu viel bedeute eine schleichende Gesundheitsgefahr, sind daher schlicht falsch. Anstatt ausschließlich aufs Gewicht zu schauen, sollten besser die gesamten Lebensumstände eines Menschen betrachtet werden.
Es geht nicht darum, das Thema Übergewicht zu verharmlosen. Eine Panikmache oder gar die Auslobung der fettesten Stadt, wie es in den USA üblich ist, bringt uns jedoch nicht weiter. Magenverkleinerungen, Fettabsaugen und Diätensucht sind nicht zuletzt Auswüchse einer übertriebenen Angst vor Übergewicht. Wer einen sachlichen Blick bewahrt und vor allem einen moderaten Gewichtsanstieg im Alter richtig einstuft, wird dem Thema Übergewicht wesentlich gerechter.
Onlineversion von:
Dittrich K. Was heißt hier zu dick? UGB-Forum Spezial: Abnehmen, worauf es ankommt. S 6-8, 2010
Foto: DAK/Wigger