Kinderlebensmittel: Extradosis mehr als überflüssig
Eltern sind schnell besorgt, wenn ihr Kind vermeintlich zu wenig Obst und Gemüse isst. Der Griff zu vitaminierten Lebensmitteln oder Supplementen erscheint vielfach als einfache Lösung. Doch die oft speziell als Lebensmittel für Kinder angepriesenen Produkte und Nährstoffpräparate sind alles andere als sinnvoll.
Das Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund (FKE) nimmt seit Jahren die Ernährungsgewohnheiten von Kindern unter die Lupe. In der vom FKE entwickelten Optimierten Mischkost gelten für alle Altersgruppen dieselben Regeln für die Lebensmittelauswahl:
- reichlich: Getränke und pflanzliche Lebensmittel (mehr als 75 % der Nahrungsmenge)
- mäßig: tierische Lebensmittel (etwa 20 %) und
- sparsam: fett- und zuckerreiche Lebensmittel (maximal 5 %)
Um zu sehen, wie diese Empfehlungen im Alltag umgesetzt werden, erfasst die DONALD Studie (Dortmund Nutritional and Anthropometric Longitudinally Designed Study) seit 1985 detailliert den Nahrungsverzehr von gesunden Säuglingen, Kindern und Jugendlichen. Bisher gibt es Daten von mehr als 1100 Kindern mit mehr als 10.000 Drei-Tage-Wiege-Ernährungsprotokollen. Wie die praktische Umsetzung der Optimierten Mischkost in Speisepläne zeigt, ist eine ausreichende Zufuhr der meisten Vitamine ohne Zusätze möglich. Dabei haben pflanzliche Lebensmittel, vor allem Gemüse und Getreideprodukte, eine überragende Bedeutung für die Vitaminzufuhr. Die Zufuhr von Folsäure kann mit folsäureangereichertem Speisesalz (100 mg/kg) effektiv angehoben werden. Zur Versorgung mit Vitamin D trägt neben Nahrung (ca. die Hälfte der empfohlenen Zufuhr) die körpereigene Produktion über Sonnenlichtexposition bei.
Kinderlebensmittel: Immer mehr wird angereichert
Trotzdem werden immer mehr mit Vitaminen und Mineralstoffen angereicherte Lebensmittel angeboten. Bei einer Markterhebung Mitte der 90er Jahre in Deutschland wurden 288 angereicherte Lebensmittel ermittelt. Vitamine wurden häufiger, vielfältiger und höher dosiert angereichert als Mineralstoffe. Etwa 15 Jahre später gab es bereits mehr als 400 Produkte und das beschränkt auf Lebensmittel mit Folsäureanreicherung und auf das Sortiment der Cerealien, Milchprodukte und Säfte. Das Angebot von Lebensmitteln, die speziell für Kinder vermarktet werden, hat sich in den letzten acht Jahren verfünffacht – auf heute mehr als 350 Produkte. Mehr als 80 % dieser „Kinderlebensmittel“ enthalten Zuckerzusätze, etwa 40 % sind mit Vitaminen angereichert, vor allem Frühstückscerealien. Angenommen, ein Kind würde pro Tag aus fünf Produktgruppen der „Kinderlebensmittel“ jeweils das mit der niedrigsten bzw. höchsten Anreicherungsdosis verzehren, kämen beachtliche Mengen zusammen. So würde es bei acht Vitaminen (E, C, B1, B2, B12, Niacin, Pantothensäure, Folsäure) mindestens das Einfache und maximal das Zwei- bis Dreifache der für sein Alter empfohlenen Nährstoffe aufnehmen, bei Vitamin B6 und Biotin sogar bis zum Siebenfachen.
Pillen schon für die Kleinen
Eine Markterhebung Ende der 90er Jahre ermittelte zusätzlich zu den angereicherten Kinderlebensmitteln 110 Nahrungsergänzungsmittel, die für Kinder oder Jugendliche angeboten wurden. Sie warben entweder direkt mit ihrer Bezeichnung, zum Beispiel „Junior-Vitamine“ (42 %), oder wiesen explizit Dosierungsangaben für Kinder (58 %) auf. Diese Präparate enthielten neben 16 Mineralstoffen insgesamt 13 Vitamine, am häufigsten Vitamin C, gefolgt von Vitamin E und Kombinationen von B-Vitaminen. Ähnlich wie bei angereicherten Lebensmitteln wurden auch hier Vitamine häufiger, vielfältiger und höher dosiert eingesetzt als Mineralstoffe. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt für vitaminangereicherte Lebensmittel des allgemeinen Verzehrs, was Produkte für Kinder wie Ceralien einschließt, dass der Zusatz bei einer üblichen Verzehrsmenge nicht mehr als das Einfache der empfohlenen Tageszufuhr ausmachen sollte. Supplemente sollten je nach Vitamin nicht mehr als das Ein- bis Dreifache enthalten. Ziel ist es, so einer Anhäufung von hohen Vitamindosen aus verschiedenen Produkten vorzubeugen.
Die von den Herstellern vorgeschlagenen Tagesdosen lagen mehrheitlich im Bereich zwischen dem Ein- bis Dreifachen der empfohlenen Tageszufuhr für Erwachsene. Sie entsprachen damit zwar im Grundsatz den Empfehlungen des BfR, aber auf Kinder sind diese Werte nicht einfach übertragbar. Vereinzelte Präparate enthielten nur geringste Dosen, andere dagegen das bis zu 30-fache der empfohlenen Tageszufuhr einzelner Vitamine.
Kinderlebensmittel: Vom Angebot zum Verzehr
Zu Beginn der DONALD-Studie 1985 fanden sich in etwa 70 % der Protokolle von Kindern und Jugendlichen nährstoffangereicherte Lebensmittel, heute kommen diese in praktisch jedem Protokoll vor: vor allem angereicherte Frühstückscerealien (60 % der Protokolle) und Getränke (40 %). Je nach Nährstoff leisten diese Produkte unterschiedliche Beiträge zur Nährstoffzufuhr. Dabei lassen sich drei Zufuhrkategorien unterscheiden: Bei einigen Nährstoffen wurde die empfohlene Zufuhr bereits mit den herkömmlichen Lebensmitteln erreicht – die Anreicherung war also sinnlos. Bei anderen Nährstoffen verhalf die Ergänzung zum Erreichen der Empfehlungen – sie war somit nützlich. Bei wieder anderen wurde trotz Anreicherung die Empfehlung verfehlt – der Zusatz war also wenig wirkungsvoll. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums sorgten nährstoffangereicherte Lebensmittel für einen zunehmenden Anteil der Energie- und Zuckerzufuhr. Waren es zu Beginn der Studie 5 % der Energie- und 10 % der Zuckerzufuhr, lag dieser Anteil 2003 bei 7 bzw. 17 %. Offensichtlich gibt es einen Trend, angereicherte Lebensmittel in der Kinderernährung immer noch süßer zu machen. Es zeigte sich auch, dass Konsumenten von folsäureangereicherten Lebensmitteln etwa doppelt soviel Folsäure aufnahmen wie Nichtkonsumenten. Bis zu 3 % überschritten sogar die tolerierbare Höchstzufuhr.
Zusatz ist nicht ohne Risiko
Im Zeitraum von 1985 bis 2003 wurden in der DONALD Studie zudem insgesamt 123 vitaminhaltige Supplemente protokolliert, in mehr als der Hälfte kombiniert mit Mineralstoffen. Am häufigsten vertreten war mit 90 % der Präparate Vitamin C, gefolgt von Mischungen aus B-Vitaminen (60-70 %). Die Verwendung zeigte sich abhängig vom Alter: 15- bis 18-jährige Studienteilnehmer nahmen häufiger vitaminhaltige Supplemente (11 %) als 2- bis 14-jährige (7 %). Nimmt man Nährstoffe im Lebensmittelverbund auf, ist ein Ungleichgewicht durch eine überhöhte Zufuhr einzelner Nährstoffe nicht zu erwarten. Anders bei zugesetzten Nährstoffen. Hier kann es unter Umständen rasch zu einer weit über die Empfehlungen liegenden Zufuhr kommen, mit dem Risiko pharmakologischer und toxikologischer Wirkungen. Um das Gefährdungspotenzial einzelner Nährstoffe abzuschätzen, bestehen aber noch erhebliche Wissenslücken. Bei der derzeitigen Anreicherung von Lebensmitteln und auch beim Nährstoffeinsatz in Supplementen ist ein ernährungsphysiologisches Konzept schwerlich zu erkennen. Vielmehr besteht der Eindruck eines Gießkannen-Prinzips, dessen vielfältigen Auswirkungen auf die Nährstoffzufuhr bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen schon für Fachleute schwer abzusehen sind. Die meisten Eltern dürften damit überfordert sein.
Kinderlebensmittel: Nährstoffmenge kaum zu kontrollieren
Über angereicherte Lebensmittel ist die Nährstoffzufuhr beim einzelnen Kind kaum zu kontrollieren. Wie viel Kinder essen, richtet sich nach ihrem augenblicklichen Hunger und ihren Geschmacksvorlieben, nicht nach der Menge der enthaltenen Vitamine. Wie die Aufnahme an folsäureangereicherten Lebensmitteln zeigt, ist bei den derzeitigen Ernährungsgewohnheiten nicht auszuschließen, dass die tolerierbare Höchstzufuhr überschritten wird – und dabei sind folsäurehaltige Supplemente noch nicht berücksichtigt. Hinzu kommt, dass der tatsächliche Gehalt lagerungsempfindlicher Vitamine wie Vitamin C in den Produkten höher sein dürfte als die deklarierte Menge. Denn die angegebene Menge muss bis zum Mindesthaltbarkeitsdatum im Produkt enthalten sein.
Kinderlebensmittel: Viel zusätzlicher Zucker
Besonders die Hersteller angereicherter Lebensmittel werben damit, dass ihr Produkt einen bestimmten Teil der empfohlenen Nährstoffzufuhr abdeckt. Doch bezieht sich das meist auf die Empfehlungen für Erwachsene. Damit überschätzen die Hersteller den Bedarf beispielsweise von 7- bis 9-jährigen Kindern, einer Hauptzielgruppe des Marketings für „Kinderlebensmittel“, in einer Größenordnung von etwa 30 %. Eltern könnten so unbewusst dazu verleitet werden, ihrem Kind mehr zu geben, als es tatsächlich benötigt. Nebenwirkungen sind nicht auszuschließen. Vielen Eltern dürfte außerdem nicht bewusst sein, dass mit den zusätzlichen Vitaminen vielfach auch zusätzlicher Zucker aufgenommen wird. Stark gezuckerte Produkte, wie die meisten der für Kinder angebotenen Frühstückscerealien, zählen in der Optimierten Mischkost zu den Süßigkeiten, die nur sparsam verzehrt werden sollten, aber nicht als tägliches Frühstück. Die Praxis sieht leider ganz anders aus. Bisher gibt es zudem keine Nachweise für gesundheitliche Vorteile durch isoliert eingesetzte Vitamine – außer der Supplemtierung von Folsäure vor der Empfängnis. Bei hochdosierter, langanhaltender Einnahme beispielsweise von Beta-Carotin kann das Risiko für zellschädigende Wirkungen sogar erhöht sein. Dagegen mehren sich die Hinweise aus großen Interventionsstudien, dass antioxidative Vitamine ihre präventiven Wirkungen nur im Lebensmittelverbund voll entfalten. Auch die Hypothese, dass Vitaminsupplemente die kognitive Leistungsfähigkeit bei Kindern verbessern, konnte bisher nicht überzeugend bestätigt werden. Allenfalls könnten Kinder, die insgesamt nicht gut ernährt sind, von Nährstoffzulagen für ihre nonverbale Intelligenz profitieren. Solchen Kindern käme aber auch die Einnahme eines regelmäßigen Frühstücks zugute.
Besorgte Eltern richtig beraten
Oftmals herrschen bei Eltern überzogene Vorstellungen von den Lebensmittelmengen, die Kinder benötigen. Eine Aufklärung zum Beispiel anhand altersgemäßer Lebensmittelmengen kann ihnen bei einer besseren Einschätzung helfen. Mehr Gemüse und Obst essen Kinder, wenn ihre Vorlieben berücksichtigt werden. So mögen sie süßlich schmeckendes Obst weit lieber als eher bitter schmeckendes Gemüse, rohes Gemüse ist beliebter als gekochtes. Die meisten akzeptieren zumindest einige Sorten Gemüse oder Obst. Dafür sollten sie gelobt anstatt getadelt werden. Kinder greifen zudem öfter zu Obst und Gemüse, wenn ihnen dieses mundgerecht als Fingerfood angeboten wird. Bei ganz wählerischen Kindern können auch Obstsäfte bzw. die neuen Smoothies einen Teil des Obstverzehrs ersetzen.
Selbst wenn bei einem gesunden Kind mit Hilfe eines mehrtägigen Ernährungsprotokolls eine Vitaminzufuhr unter der altersentsprechenden Empfehlung festgestellt wird, ist dies allein noch kein hinreichender Grund für den Griff zu Nährstoffzusätzen. Denn die ausgesprochenen Empfehlungen sind sehr großzügig bemessen. Vielmehr lohnt sich dann eine Beratung hinsichtlich geeigneter Lebensmittel, wobei bestehende Ernährungsgewohnheiten zu berücksichtigen sind. Eine vegetarische (fleischfreie) Ernährung birgt ebenfalls keine Risiken für die Vitaminversorgung. Im Gegenteil: Mit ihrem hohen Verzehr pflanzlicher Lebensmittel nehmen Vegetarier in der Regel mehr Vitamine auf als der Großteil der Bevölkerung bei der üblichen Mischkost. Bei Verzicht auf alle tierischen Lebensmittel (vegane Ernährung), muss dagegen Vitamin B12 supplementiert werden, um der Maskierung einer megaloblastischen Anämie bei reichlicher Folsäureaufnahme vorzubeugen. Ein Ernährungsprotokoll kann Anhaltspunkte geben, ob die Zufuhr weiterer Vitamine (B2, D) oder anderer Nährstoffe kritisch einzustufen ist.
Lieber abwechslungsreich essen
Nach wie vor können gesunde Kinder und Jugendliche mit einer ausgewogenen Mischkost aus herkömmlichen Lebensmitteln mit Vitaminen gut versorgt werden. Dies gilt auch für die Beikost im 2. Lebenshalbjahr. Eine über die bestehenden Empfehlungen hinausgehende Vitaminzufuhr bietet keine Vorteile für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Das Ausweichen auf Vitaminzusätze mag zwar manchen Eltern die Sorge vor einer Unterversorgung ihres Kindes nehmen. Dies darf aber kein Freibrief für ungünstige Ernährungsgewohnheiten sein. Wie die DONALD Studie zeigt, verzehren viele Kinder und Jugendliche nach wie vor zu viel Fett und Zucker, aber zu wenig Gemüse, Obst und Getreideprodukte. Eine solche energiedichte Kost erhöht das Risiko für Adipositas und die schon bei Kindern und Jugendlichen auftretenden Folgeerkrankungen. Wichtiger als angereicherte Lebensmittel und Nährstoffergänzungen ist daher, dass die ganze Familie abwechslungsreich und ausgewogen isst und oft zu frischen Lebensmitteln greift.
Der Beitrag wurde nach Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Kinderernährung zusammengestellt und autorisiert von der Leiterin PD Dr. Mathilde Kersting.
Quelle: Forschungsinstitut für Kinderernährung. UGB-FORUM 1/08 S. 13-16
Wenn Sie Ideen suchen, wie Sie Kinder für eine gesunde Ernährung begeistern können, sollten Sie sich über das UGB-Praxisseminar
Kochen für Kinder informieren.