Der biopsychosoziale Ansatz: Den Menschen als Ganzes sehen
Die heutige Medizin basiert hauptsächlich auf messbaren Faktoren. Um ein umfassenderes Bild des Menschen zu erhalten, betrachtet der biopsychosoziale Ansatz dagegen alle Befunde, einschließlich psychischer und sozialer Faktoren. Dadurch entsteht eine neue Perspektive auf Gesundheit und Krankheit.
Unser Gesundheitssystem gilt im internationalen Vergleich als eines der besten weltweit – und doch hört man laute Klagen. So können akute, auch schwere akute Erkrankungen sehr effektiv behandelt werden, ebenso Verletzungen. Vielen lebensbedrohlich Erkrankten kann die moderne Medizin Linderung und Lebensjahre schenken. Doch in diesem eher kleinen Ausschnitt bleibt verborgen, wie es bei den ständig zunehmenden chronischen Erkrankungen aussieht: Sei es bei Erkrankungen des Stoffwechsels, ernährungsabhängigen Krankheiten, Gefäß-, neurologischen oder psychischen Krankheiten. Nicht zuletzt betrifft das auch Störungen, die sich derart unbestimmt und sozusagen diffus äußern, dass diese nur vage und mit mangelnder Akzeptanz im Gesundheitsbetrieb kategorisiert und damit anerkannt werden – zum Beispiel Fibromyalgie oder Multiple Chemische Sensibilität. Allesamt sind das Erkrankungen mit einem chronisch-entzündlichen Grundmuster.
Unklare Beschwerdebilder nehmen zu
Man könnte meinen, der Medizinbetrieb wolle mit diesen unscharf definierten Erkrankungen nichts zu tun haben. Es geht um Antriebslosigkeit, erhöhte Schmerzempfindlichkeit, körperliche und mentale chronische Müdigkeit, Stimmungsschwankungen, schwankende Körpertemperatur; es geht um Bluthochdruck, übermäßige Fettansammlung im Bauchraum, Haarausfall oder den Verlust der Libido. Die Liste ist noch deutlich länger.
Zudem schlagen Zahnärzte Alarm, weil in Deutschland etwa zwölf Millionen Menschen an der schweren Verlaufsform der Parodontitis leiden. Damit ist die chronische Entzündung des Zahnhalteapparats eine Volkskrankheit geworden, ebenso wie die nichtalkoholische Fettlebererkrankung: Jeder dritte Erwachsene ist erkrankt, häufig über lange Zeit ohne Diagnose.
Nur Fehlernährung und Bewegungsmangel?
Was wissen wir über die Gründe für diese beunruhigende Entwicklung? Schon seit geraumer Zeit weist die Grundlagenforschung auf die zunehmende Fehlernährung mit erhöhter Aufnahme von Fett und Kohlenhydraten hin; besonders fatal in Verbindung mit einem seit 50 Jahren stetig steigenden Konsum hochprozessierter Lebensmittel, gesüßter Getränke und einer stark veränderten Esskultur. Steigende Urbanisierung und zunehmender Bewegungsmangel treiben die Adipositasrate stetig nach oben.
Auch die Diagnose Diabetes mellitus nimmt zu: 70 Prozent der Typ-II-Variante beruhen auf falscher Ernährung. Jede Mahlzeit löst in uns eine evolutionär entwickelte und in frühen Zeiten vor möglichen Giftstoffen und Krankheitserregern schützende entzündliche Reaktion aus. Heute forcieren industriell hergestellte Lebensmittel mit hoher Energiedichte, hohem Fett- und Zuckergehalt (vor allem Fruktose) diese Reaktion und schieben so chronische Entzündungen an.
Postmoderner Lebensstil als Antreiber
Also alles nur Fehlverhalten und damit doch nur biochemisch-immunologisch erklärbar? Da sind noch andere Dinge im Spiel: Schwierige Lebenserfahrungen wie Traumatisierung, frühe Verlassenheit oder Bindungsverlust in Lebenskrisen. Aber auch das permanente Erleben von Überreizung und Überforderung initiieren und unterhalten entzündliche Immunreaktionen. In einer Gesellschaft mit permanentem Druck zur Selbstoptimierung erweisen sich übersteigerter Ehrgeiz und überhöhte Erwartungen – auch an das eigene Leistungsvermögen – als chronische Entzündungs- und damit Krankheitstreiber. Der postmoderne Lebensstil wird zur Krankheitsursache.
Immer online sein, Überschwemmung mit Nachrichten und Lärm, täglicher Stress im Verkehr, der Terror der Lebensziele mit einem gnadenlosen Verbesserungsdrang und Zukunftsängsten bestimmen zunehmend das Lebensgefühl. Dieser chronische Stress zermürbt und macht auf vielfältige Weise krank. In der Medizin vollkommen übersehen wird dabei, dass die postmoderne Verpflichtung, ein Individuum zu sein, uns gnadenlos von den anderen trennt. Getrenntsein erleben wir aber seit Urzeiten als Bedrohung. Und so rutschen wir mit einem chronisch überforderten autonomen Nervensystem in ein immer tieferes Kranksein.
Heutiges System muss sich verändern
Die Datenfülle ist erdrückend und führt zur Frage, wie denn die Medizin diese Herausforderung zu meistern gedenkt. Das noch immer präferierte biometrische Medizinmodell, das jegliches Kranksein auf physiko-chemische Abweichungen zurückführen möchte, ist dieser Aufgabe schon lange nicht mehr gewachsen. Menschen sind keine Körpermaschinen und zu viele Kranke können durch die vorherrschende Ingenieursmedizin nicht gesunden. Eine rein naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin ist außerstande, den Menschen in seinem komplexen lebendigen Sein als Subjekt zu erkennen; er bleibt immer nur Gegenstand von Diagnostik und Therapie.
Man muss sich fragen, ob die Medizin stecken geblieben ist. Warum wird unvermindert bei vielen Erkrankungen die Psyche ignoriert und warum werden sehr überzeugende, wissenschaftlich gut geprüfte und seit langem verfügbare erweiterte Theorieangebote wie das biopsychosoziale Modell nicht wahrgenommen?
Zurück zur sprechenden Medizin
Die auf die frühen Ärzte wie Aristoteles oder Asklepios zurückgehende erste Leitlinie für die praktische Medizin lautete: erst das WORT (sprechende Medizin), dann die ARZNEI und zuletzt das MESSER (Technik). In der postmodernen Medizin ist das Gespräch (Wort), das erste und grundlegende Element, quasi verschwunden. Und die in dieser historischen Leitlinie schon immer nachrangig positionierten Medikamente und erst recht der heute überdimensionierte medizinisch-technische Apparat können augenscheinlich das Problem der chronisch entzündeten Gesellschaft nicht lösen.
Zugleich aber fordern von der High-Tech-Medizin frustrierte kranke Menschen immer alle verfügbaren Mittel ein, sowohl diagnostisch als auch therapeutisch. Doch dieses immer mehr vom Gleichen führt nicht aus der Sackgasse. Und unbeantwortet bleibt die Frage, wie mit den in dieser Eskalation explodierenden Kosten zu verfahren sei.
Biopsychosozialer Ansatz als Ausweg
Noch einmal zum Ausgangspunkt: Chronische Erkrankungen nehmen in Relation zu Akuterkrankungen dramatisch zu. Dieser Entwicklung hat eine in erster Linie naturwissenschaftlich orientierte Medizin viel zu wenig entgegenzusetzen. Der Mensch ist eben keine komplexe Maschine. Er ist beseelt. Bei jedem Krankheitsprozess sind auch psychologische, ökologische und soziale Fragen im Spiel. Die Misere ist nicht neu und so wurden vor allem in den letzten vier Jahrzehnten überzeugende alternative Modelle entwickelt. Das derzeit am besten erforschte ist das biopsychosoziale Modell.
Dieses Modell reduziert nicht auf Physik und Chemie, sondern geht von Systemebenen einer hierarchisch gegliederten Natur aus. Diese Systeme kommunizieren, nichts existiert isoliert. Das Immunsystem spricht mit der Stoffwechselregulation und zugleich mit dem psychischen Apparat. Diese Ereignisse laufen nicht sequenziell, sondern auf verschiedenen regulativen Ebenen gleichzeitig ab. In einem solchen Verständnis avanciert der Organismus vom Status einer Körpermaschine zu einem offenen, informationsverarbeitenden, dynamischen System.
Körper und Geist als Einheit denken
Die heutige Medizin spricht die Sprache der Materie und damit der Technik; in den ärztlichen Befundberichten nehmen die Labor- und vor allem die bildgebenden und histologischen Befunde den weitaus größten Raum ein. Solange sie nicht in die Sprache der gestörten Funktion wechselt, bleiben weite Bereiche menschlichen Krankheitserlebens ausgeblendet und wie abgetrennt.
Dabei ist längst erwiesen, dass Sprache und emotionales Verhalten wirksame Kommunikationssignale sind. Sie erfüllen auf der interpersonalen Ebene dieselben Funktionen wie Hormone oder Neurotransmitter auf den darunter liegenden biochemischen oder neuralen Ebenen des Organismus. So wird auch nachvollziehbar, dass der Übergang vom Gesund- zum Kranksein nicht strukturell begründet ist, sondern sich in Änderungen der dynamischen Funktionen des Organismus vollzieht.
Entwurf einer biopsychosozialen Medizin
Man mag die Biochemie und die Neurologie noch so gut untersuchen, man wird dennoch die Phänomene des Erlebens, der Emotionen, des Verhaltens damit nicht erklären können. Denn in der systemischen Regulation ruft das höher liegende System Phänomene – zum Beispiel ein bestimmtes Angstgefühl – hervor, die auf der darunter liegenden Ebene (Neurologie, Biochemie) noch gar nicht existieren. Jedes Ereignis, jeder Lebensprozess ist sowohl biologisch als auch psychologisch. Und somit ist jeder Gedanke, jedes Gefühl und jeder Impuls immer zugleich auch ein körperlicher Vorgang.
Gesund sind wir in diesem systemischen interaktiven Verständnis nicht, wenn keine Bakterien da sind, sondern wenn wir eine bakterielle Bedrohung autoregulativ bewältigen können. Ist diese Kompetenz unzureichend, werden wir krank. Und dies ist dann kein Zustand, sondern ein dynamisches Geschehen, welches in jeder Sekunde neu entschieden wird.
Gesundheit und Krankheit in neuem Licht
Im Gegensatz zur rein messenden Medizin werden im neuen Ansatz alle (!) Detailbefunde, also auch psychische und soziale, zu einem größeren Bild zusammengefügt. Dann sehen die Dinge buchstäblich anders aus. Und auch Gesundheit und Krankheit erscheinen in einem neuen Licht. Diese Zusammenschau (Synopse) ist nicht rein medizinisch ausgerichtet, vielmehr ist sie quasi ein philosophischer Akt.
Weltweit forschen heute Philosophen im Verbund mit Neurowissenschaftlern, Immunologen und Biochemikern zu den grundlegenden Lebensfragen. Dass diese Aktivitäten einer breiten Öffentlichkeit eher verborgen bleiben, ist Merkmal einer gesellschaftlich ungebrochenen dualistischen Sicht von Geist und Körper. Es ist auch Ausdruck einer im Wissenschaftsbetrieb weit verbreiteten Verachtung und Entwertung der Psyche, sozusagen des Seins, dessen man nicht habhaft werden kann.
Karl Lauterbach will den Hausärzten helfen, bürokratische Last abzubauen. Laut einer aktuellen Erhebung verbringen sie pro Jahr 60 (!!) Arbeitstage mit Bürokratie und Digitalisierung; Tendenz weiter steigend. Aber würde denn die freiwerdende Zeit dann auch genutzt für eine sprechende Medizin? Würde dann über die fatale Wirkung einer krankmachenden Lebensweise durch entzündungsfördernde Ernährung gesprochen und was es wirklich bedeutet, immer auf der Überholspur des Erfolgs sein zu wollen? Aus gutem Grund sind Zweifel angebracht.
Medizin ist vom Zeitgeist nicht zu trennen. Der öffentliche Diskurs ist getragen von der Wertfrage des Körpers – ganz im Sinne einer Warengesellschaft. Damit orientiert sie sich an Möglichkeiten von Eingriffen. Reparierbarkeit, Technik, Manipulierbarkeit und der Kostenrahmen sind gefragt. Dies gilt für die moderne sprachlose Medizin in weiten Teilen ebenso wie für die Auswüchse hochstilisierter Körperkulte. Wir wollen mehr haben, als wir je sein können.
Zurück zur Berührung mit der Welt
Kehren wir zurück zum Befinden, zum Behagen oder Unbehagen, zur Frische oder zur Müdigkeit, zum Hunger, zum Durst, zu Stimmungen und Gefühlen. Hier können wir unserer Natur begegnen und nur hier können wir in der Tiefe verstehen, wie unmittelbar Gesundheit und Krankheit eingewoben sind in die Berührung mit der Welt.
Vielleicht ist es so etwas wie das Innerste, das Wesentlichste im biopsychosozialen Paradigma, dass eine solcherart praktizierte Medizin und damit jede Therapie, jede Beratung den Menschen dort aufsucht, wo der Austausch mit der Welt gestört ist – ob biochemisch oder psychisch oder sozial. Wo heute Technik, Machbarkeit und Verfügbarkeit bestimmen, könnte wieder Anerkennung auftauchen für das „spontane Werden“. Es könnte Platz sein für eine Wahrnehmung dessen, was ist und dafür, was Heilkraft in sich trägt: der Atem, der Schlaf, das Essen und Trinken, das Baden, das Wandern, das Warten, das Schweigen.
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Stichworte: Mensch als Ganzes, Biopsychosozial, postmoderner Lebensstil, sprechende Medizin, Körper und Geist
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UGBforum 2/2024
Biopsychosozial: Gesundheit neu gedacht
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