Körperorientierte Beratung: Der Körper isst mit

In der Ernährungsberatung bestimmt heute meist eine kog­nitiv-rationale Herangehensweise den Beratungsprozess. Der körperorientierte Ansatz nutzt dagegen das Erkunden von Körperempfindungen, Bewegungsmustern und körpersprachlichen Äußerungen, um Impulse für gesundheitsförderliche Veränderungen zu geben.

Die aktuelle Ernährungsberatung stellt meist den ernährungsphysiologischen Bedarf der Klient:innen in den Vordergrund. Der Körper soll möglichst störungsfrei funktionieren und gilt kaum als Ressource. Es sind jedoch meist körperliche Prozesse und Phänomene, warum Menschen eine Ernährungsberatung aufsuchen. Daher ist es naheliegend, den Körper im Beratungsprozess stärker zu berücksichtigen. Ergebnisse aus Neuropsychologie, Säuglingsforschung, Psychotraumatologie sowie Bindungs- und Emotionsforschung zeigen, wie sich körperliche Erfahrungen sowohl auf Empfindungen, Selbstgefühl und Motivation als auch auf zwischenmenschliche Fähigkeiten und das Denken auswirken. Erkenntnisse der Kognitions- und Neurowissenschaften verweisen auf den zentralen Stellenwert einer Kopplung von Körper, Gefühl und Verstand.

Body Turn – Hinwendung zum Körper

Eine körperorientierte Sichtweise in der Beratung beinhaltet drei Dimensionen: den Klientenkörper, den Körper der Beratungsperson und den zwischenleiblichen Raum (siehe Abbildung). Der Klientenkörper erzählt Geschichten, trägt nonverbale Informationen über individuelle Essbiografien, verkörperte Glaubenssätze – z. B. „Du musst schnell essen, sonst bleibt für dich nichts übrig!“ – sowie frühkindliche Prägungen, die das Essverhalten der Klienten beeinflussen. Eine Hinwendung zum Körper offenbart den Klienten wertvolle essbiografische Informationen, verbessert deren Körpergefühl und ermöglicht andere Zugänge und Perspektiven zur Verhaltensmodifikation (eigenleibliche Resonanz). Auch die Beratungsperson findet Erdung und Kraft, wenn sie in der Lage ist, auf ihr eigenes Körperwissen – z. B. in Form von Intuition, inneren Bildern – zu vertrauen und als Ressource im Beratungsprozess zu nutzen. Ebenso ist das Selbstmitgefühl, die Impathie, verkörpert und stellt eine wichtige Ressource für die Beratungsperson dar. Die Berater-­Klienten-Beziehung erweitert sich um zwischenleibliche Phänomene, die sich unter anderem über den verkörperten Dialog in den Beratungsprozess integrieren lassen.

Seminartipp
Wege in eine körperorientierte Ernährungsberatung
In diesem Seminar vermitteln Stepanie Hoy und die systemische Familientherapeutin Edith Gätjen, wie sich ressourcenorientierte Körperarbeit in der Ernährungsberatung einsetzen lässt. Die Teilnehmenden lernen Zwischenleiblichkeit und verkörperten Dialog kennen und nutzen und reflektieren ihre eigene Haltung zum Körper als Beratungsperson.

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Wenn es der Beratungsperson gelingt, den zwischenleiblichen (Resonanz)Raum als Grundlage für Empathie und körperliches sowie soziales Verstehen zu nutzen, kann sie den Klienten „wie am eigenen Leib“ spüren. Sie ist empathisch und vertieft somit die vom Psychologen Carl Rogers postulierte klientenzentrierte Haltung innerhalb der Beratung.

Klientenkörper: Essbio­grafie bestimmt Verhalten

Im Lebensverlauf entwickeln sich unter familiären, historischen, sozio- und interkulturellen Einflüssen individuelle Ernährungsgewohnheiten. Dadurch entstehende, sehr individuelle Essbiografien beinhalten etwa Essrituale, Ess- und Trinkgewohnheiten, besondere Vorlieben und Abneigungen oder auch Krankheiten. Die Essbiografie bestimmt das Essverhalten eines Menschen. Um die Essbiografie der ratsuchenden Person zu ergründen, bietet es sich an, körperorientiert und selbstreflektierend zu fragen, zum Beispiel:

  • Wie und wo wird Hunger gefühlt? Wie wird Hunger bewertet?
  • Was bedeutet Genuss?
  • Wie wird Sattsein gefühlt? Wo wird Sattsein gefühlt? Welche Gefühle werden mit dem Sattsein verbunden?
  • Wird Essen als Belohnung oder Bestrafung eingesetzt?
  • Gibt es Glaubenssätze, die das Essverhalten beeinflussen?
Ein Teil dieser Antworten ist kog­nitiv abgespeichert und kann problemlos beantwortet werden. Andere Antworten sind verkörpert und nur schwer in Worte formulierbar. Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass sich der Körper alles merkt. So verfügen Menschen nicht nur über ein explizites Gedächtnis in der Großhirnrinde. Sie sind auch in der Lage, über das limbische System, das Antrieb, Lernen oder Gedächtnis steuert, und ein Körpergedächtnis (implizites Gedächtnis) Erfahrungen zu speichern. Von frühester Kindheit an lagern sich soziale Interaktionen und Erfahrungen als Verhaltensentwürfe, Körperhaltungen und Körperpraktiken im impliziten Gedächtnis ab. Demnach speichern unsere Körperarchive frühkindliche Prägungen, verkörperte Wissensbestände und Bewältigungsstrategien nonverbal ab. Ein Beispiel dafür ist die oft verkörperte Lern­erfahrung, dass Süßigkeiten verlässlicher trösten als Menschen.

Die systemische Ernährungstherapeutin Edith Gätjen nennt diese Gewohnheiten, Gefühle und Gedanken virtuelle Mitesser, die immer mit am Tisch sitzen. Die Arbeit mit den Körperarchiven der ratsuchenden Personen sensibilisiert diese für eigene frühkindliche Prägungen sowie verkörperte Glaubenssätze und fördert den konstruktiven Umgang damit.

Beraterkörper: dem Bauchgefühl Raum geben

Beratungspersonen nutzen ihren Körper bislang als körpersprachliches Medium. Sie erhalten in der Aus- und Weiterbildung überwiegend Hinweise, wie sie ihren Körper etwa in Vortragssituationen optimal und professionell einsetzen. Der Körper der Beratungsperson ist jedoch mehr als ein sich präsentierendes Objekt. Er agiert und reagiert bewusst und unbewusst auf das, was im Beratungsprozess inhaltlich und beziehungsseitig passiert. Bislang erfahren diese körpernahen, nichtsprachlichen Ausdruckssignale im Beratungsprozess wenig Beachtung. Wenn es der Beratungsperson jedoch gelingt, eine Spürpräsenz mit Innehalten und spürender Selbstbefragung zu entwickeln und zu nutzen, bekommt auch das Unbewusste, das Intuitive, das Bauchgefühl einen Raum im Beratungsprozess. Die Impathie, also die Fähigkeit die eigenen Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen wahrzunehmen und im Prozess zu nutzen, ist nicht nur bedeutsam für die Arbeit mit Klienten. Sie ist auch ein zentraler Schlüssel für mehr Selbstfürsorge – gerade in herausfordernden Gesprächen. Die bewusste Ansteuerung der eigenleiblichen Resonanz liefert körpernahe, nichtsprachliche Informationen, die die Beratungsperson auf zweierlei Wegen nutzen kann: Einerseits zur Selbstinformation, um Hypothesen über die ratsuchende Person, deren problematische Verhaltensweisen oder dereninhärente Bewältigungsstrategien zu bilden. Andererseits kann das aktive Formulieren dessen, was der Klient bei der Selbstbefragung spürte (zwischenleibliche Resonanz), Informationen liefern. Um die eigenleibliche Resonanz im Beratungsprozess nutzen zu können, braucht die ratgebende Person einen guten Zugang zum eigenen Körper und den eigenen Empfindungen. Gleichzeitig muss sie unterscheiden lernen, welche Empfindungen zu den eigenen Erfahrungen gehören und welche durch die Befindlichkeiten der Klienten bestimmt sind. In der beruflichen Weiterbildung sind deshalb selbstreflektierende Fragen zum Umgang mit dem eigenen Körper unumgänglich. Folgende Fragen sind zum Beispiel zu stellen:

  • Wie gut ist die Beratungsperson im Kontakt zu ihrem Körper – dem Spüren, Fühlen, Wahrnehmen?
  • Wie geht sie mit dem eigenen Körper um? Welche körperlichen Zuschreibungen erfuhr sie als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener?
  • Welche körperbezogenen Glaubenssätze steuern die eigene Haltung zum Körper und zum Essen?
Neben dieser kognitiven Auseinandersetzung mit der Körperbiografie helfen Übungen zur Körperwahrnehmung, diesen Kompetenzbereich zu trainieren.

(Ess)biografische Erfahrungen und verkörperte Lebensthemen lassen sich im Rahmen von Beratungsprozessen für Veränderungsimpulse nutzen. Der Körper ist Träger bisher ungenutzter Wissensbestände, die für sinnhaftes Ernährungshandeln bedeutsam sein können. Die Entwicklung einer körperorientierten Beratungsmethodik erweitert den klientenzentrierten Kompetenzbereich einer Beratungsfachkraft hin zu mehr Ganzheitlichkeit und schafft eine neue Perspektive, um den Körper bewusst für die Veränderungsarbeit zu nutzen.

Der zwischenleibliche (Resonanz)Raum

Nach dem Neurowissenschaftler und Psychotherapeuten Joachim Bauer ist jeder Körper ein Resonanzkörper, der sich auf andere Körper einschwingt. Beispiele für solche Resonanzphänomene sind das automatisierte Gähnen, wenn ein anderer Mensch gähnt, Erwachsene, die beim Füttern eines Kleinkindes mit dem Löffel ebenfalls den Mund öffnen oder die unwillkürlich ähnliche Sitzhaltung von Gesprächspartnern. Der zwischenleibliche (Resonanz)Raum lässt sich methodisch für die Ernährungsberatung nutzen, um den inneren Stimmen des Klientensystems Gehör zu verschaffen (verkörperter Dialog). Zudem ist er elementarer Bestandteil für gelingende Beziehungsgestaltung und damit Basis für Empathie und soziales Verstehen im Beratungsprozess.

Der verkörperte Dialog im zwischenleiblichen Raum

Der verkörperte Dialog ist ein interaktives Geschehen, innerhalb dessen sich die Gesprächspartner mit ihrem gestisch-körperlichen Verhalten füreinander sichtbar zeigen. Die Beratungsperson hat dabei die Aufgabe, körpersprachliche und verkörperte Ausdrucksmuster zu erkennen, zu deuten und für die ratsuchende Person als Hypothesen zu formulieren. Dazu bedient sie sich eigener Beobachtungen und Gefühle sowie innerer Bilder und Eindrücke. Die Beratungsperson leistet damit eine Art Übersetzungsarbeit. Diese Informationen werden nur wahrnehmbar, wenn es der Beratungsperson gelingt, eine Spürpräsenz zu entwickeln. Gemeint ist die Fähigkeit, sich gleichermaßen in die innere Erlebniswelt des Gegenübers einzufühlen und dabei dennoch bei sich zu bleiben und empfänglich zu sein für eigene Körperbotschaften (Spüren = hin zum Klienten, Präsenz = wach für die eigenen Botschaften). Ob der Schlüssel – die Hypothese – passt, entscheidet die ratsuchende Person.

Die Beratungsperson versucht, über den verkörperten Dialog die Körpersprache in Sätze zu übertragen, die den noch unbewussten Befindlichkeiten und Gefühlen des Klienten in diesem Moment entsprechen. Damit verschafft die Beratungsperson über den zwischenleiblichen Raum den inneren Stimmen des Klientensystems Gehör und ermöglicht der ratsuchenden Person eine Vertiefung und Klärung von Gefühlen und Empfindungen. Die besondere Herausforderung für die Beratungsperson liegt darin, sich mit dem eigenen Körper zur Verfügung zu stellen, die eigenleiblichen und fremden Körpersignale aufzunehmen und diese für den Klienten nutzbar zu machen. Durch das Ansprechen wahrgenommener Erlebnisinhalte, Gefühle und Körperausdrücke lässt sich die eigenleibliche Resonanz des Klienten fördern und seine Handlungsfähigkeit verbessern.

Menschen schwingen sich aufeinander ein

Eine mögliche Ursache für Resonanzphänomene ist das System der Spiegelneuronen. Sie ermöglichen eine intuitive, wechselseitige soziale Einstimmung, indem Menschen die Handlung der anderen im Sinne einer stillen, inneren Simulation nacherleben. Die Resonanz der Spiegelneuronen setzt spontan und unwillkürlich ein und legt damit den Grundstein für soziales Miteinander und Verstehen. Aus Sicht der Neurobiologie sind zwei Menschen, sobald sie einander leiblich begegnen, in ein systemisches Interaktionsgeschehen einbezogen, das ihre Körper miteinander verbindet. Dabei schwingen sich Menschen auf den emotionalen und den körperlichen Zustand eines anderen Menschen ein. Daraus ergibt sich eine zwischenleibliche Resonanz, die im zwischenleiblichen (Resonanz)Raum entsteht.

Chancen für die körper­orientierte Beratung

uchen Beratungspersonen nach einer für den Klienten nützlichen Form der Verhaltensänderung, kann der Körper eine wichtige Ressource sein. Die Berater-Klienten-Beziehung ist idealerweise so zu gestalten, dass sie gleichzeitig kognitiv-emotionaler Erkenntnis- und zwischenleiblicher Erfahrungsraum ist. Das Beachten körperlicher Signale und Ausdrucksmittel kann für die ratsuchende Person neue Erkenntnisse und Lösungen bringen. Wenn der Körper wieder als Ort erlebbar wird, der Sinn, Halt und Orientierung sowie Kraft und Zuversicht schenkt, kann sich die ratsuchende Person auf den Weg machen, besser für diesen Körper zu sorgen. Eine körper­orientierte Beratungsarbeit ergänzt die klassische Beratungsmethodik und kann so dazu beitragen, das Essverhalten gesundheitsförderlich zu gestalten.

Bild © olly18/depositphotos.com

Stichworte: körperorientierte Ernährungsberatung, Essbiografie, Klientenkörper, Beraterkörper, zwischenleibliche Raum


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