Training im Freien: Fit und draußen
Es wird Zeit für ein neues Verständnis von Fitness. Denn Sportstudios, Turnhallen oder Schwimmbäder vernachlässigen eine Kraft, die unsere Gesundheit maßgeblich mit beeinflusst – die Natur.
© Chrisitian KaufmannWie viele Kilogramm habe ich heute bewegt? Welche Strecke bin ich in welcher Zeit gelaufen? Viele Menschen beschäftigen sich ausschließlich mit den direkt messbaren und sichtbaren Werten ihres Sports. Natürlich kann eine Überprüfung der körperlichen Leistungsfähigkeit sehr motivierend sein. Aber Fitness in der Natur bietet noch viele andere, weitaus wichtigere Aspekte. Wir selbst können zwar nicht sagen, wie hoch der Anstieg der für unsere Immunabwehr wichtigen Killerzellen ist oder wie stark unsere Stresshormone sinken, wenn wir uns in der Natur bewegen. Wir können auch nicht sehen, was passiert, wenn wir die Hände auf dem Boden und damit direkten Kontakt zu unzähligen wichtigen Mikroben haben, die unser Immunsystem fit halten. Aber wir können die positiven Effekte spüren. Und Experten können den äußerst positiven Einfluss, den Natur auf unser Immunsystem und unsere Psyche nimmt, mittlerweile wissenschaftlich belegen.
Licht und Luft spüren
Unsere Ahnen haben den Großteil des Tages draußen verbracht. Selbst an einem bedeckten Wintertag haben sie so reichlich Licht abbekommen. Eine Lichtmenge, die wir in geschlossenen Räumen nicht erreichen. Draußen produziert der Körper Vitamin D, sobald die Haut Sonnenlicht mit entsprechender Intensität ausgesetzt ist. Das Vitamin ist wichtig für den Transport von Calcium in die Knochen. Außerdem ist Vitamin D auch gut für die Stimmung, denn es fördert die Produktion von Serotonin. Ein wichtiger Grund, sich lieber in der Natur anstatt in einer Turnhalle oder einem Fitnessstudio zu bewegen, lautet daher: Licht tanken.
Auch die Luft, die wir in der freien Natur atmen, ist eine andere als die, die wir drinnen aufnehmen. Jeder kennt das, der schon einmal durch den Wald spaziert ist. Dort riecht die Luft anders als in einem geschlossenen Raum, selbst wenn in diesem Raum ein Waldaroma versprüht wurde. Waldluft ist zudem extrem staubarm. Sie enthält im Vergleich zur Stadtluft nur maximal ein Zehntel der Staubpartikel. Bäume produzieren darüber hinaus Sauerstoff und ätherische Stoffe, die den Wald duften lassen; ie tun Körper und Seele gut und sprechen unsere Sinne an. Aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass Pflanzen nicht nur kommunizieren, sondern dass die Stoffe, die sie zum Zweck der Informationsübermittlung ausstoßen, unser Immunsystem stärken.
Selbstbewusstsein steigt
Allein der Blick auf eine natürliche Umgebung verbessert Blutdruck und Puls. Um diese Aussage zu überprüfen, liefen in einem Versuch zwei Gruppen von Sportlern auf Laufbändern, vor denen Bilder aus der Natur oder städtische Szenen aufgebaut waren. Diejenigen, die vor Landschaftsbildern liefen, wiesen nach dem Test einen niedrigeren Blutdruck und ein höheres Selbstbewusstsein auf als die andere Gruppe, die mit dem Blick auf Stadtszenen gelaufen war.
Bewegung kann zudem Stresshormone abbauen und auch dafür sorgen, dass das Stresswahrnehmungszentrum Pause macht, weil ein anderer Teil des Gehirns die Regie übernimmt. Findet das Ganze draußen in der Natur statt, ist der Effekt umso größer.
Natur und Gesundheit
Heute ist wissenschaftlich belegt, dass ein Aufenthalt in der Natur:- den Blutdruck senkt, die Herzfrequenz und den Hormonhaushalt stabilisiert und so Stress mindert und entspannt.
- das Immunsystem unterstützt und unter anderem die Killerzellen im Blut erhöht.
- den Vitamin-D-Spiegel erhöht
- die Serotoninproduktion ankurbelt und so die Stimmung hebt.
- Wald auch ohne Bewegung den Blutzuckerspiegel senkt.
Natürliche Bewegung ist in erster Linie das, was ein Körper auf natürliche Art und Weise leisten kann. Das kann man sich gut vorstellen, wenn man an unsere steinzeitlichen Vorfahren denkt, die ohne technische Hilfsmittel überlebten. Sie mussten gehen, rennen, springen, krabbeln, kriechen, werfen, auf allen Vieren laufen, klettern, balancieren, ziehen, schwimmen, drücken oder drehen. Natürliches Training in der Natur bezieht all diese Bewegungsformen mit ein.
Natur als Trainingsgerät
Wer nach dieser Idee trainiert, nutzt nur sein Körpergewicht und eventuell natürliche Hilfsmittel wie Steine, Äste oder ganze Baumstämme. So lassen sich sehr effektiv alle Muskelgruppen kräftigen. Das zeigt beispielsweise die einfache, aber komplexe Übung „Baumstamm ziehen“, bei dem dieser angehoben, rückwärts gezogen und wieder abgesetzt wird. Mit dem Aufheben wird die gesamte Beinmuskulatur, mit dem Aufrichten und Rückwärtsgehen der gesamte Rumpf und mit dem Hochstemmen und Rückwärtsziehen der Oberkörper sowie Arme, Rücken-, Schulter- und Brustmuskulatur beansprucht. Der meist unebene Boden in der Natur beeinflusst zusätzlich den Stand. So ergibt sich ein optimales Zusammenspiel aller Muskelgruppen. Mit natürlichem Training kräftigt man aber nicht nur seinen Muskelapparat oder sein Herz-Kreislauf-System, sondern trainiert alles, was in einem steckt: Kraft, Beweglichkeit, Ausdauer, Gleichgewicht, seine Sinne, das Immunsystem, den Stoffwechsel und die Körperchemie – und damit auch die Gefühle. Denn Bewegung bewirkt auch eine mentale Veränderung – gerade draußen im Grünen.
Nützliche Mikrorisse
Die Natur tut nicht nur gut, weil man die Waldluft riecht, die Sonne genießt und Äste bewegt. Sogar Verletzungen, die man sich beim Bewegen in der Natur zuzieht, wirken sich positiv aus. Es geht dabei nicht um Sportverletzungen, sondern um winzig kleine, mit bloßem Auge nicht erkennbare Blessuren – sogenannte Mikrorisse. Sie entstehen zum Beispiel dann, wenn man barfuß über einen Waldweg geht. Durch die kleinen Steinchen im Boden erhält man zum einen eine kostenlose Massage seiner Fußsohlen; positiver Effekt ist eine erhöhte Durchblutung. Diese winzigen Verletzungen, die durch die raue Oberfläche oder spitzen Kanten der Steinchen entstehen, regen zum anderen das Immunsystem an. Abwehrzellen schauen gewissermaßen nach, was da unten an den Fußsohlen gerade los ist. Sie machen sich bereit, dafür zu sorgen, dass kein Schmutz und keine Erreger das Blutsystem entern und im Körper Schaden anrichten. Das gleiche Prinzip setzt ein, wenn man Klimmzüge an einem Ast macht, einen dicken Stein aufhebt oder Liegestütze an einer alten Parkbank macht.
Wer ab und zu barfuß läuft, kräftigt zudem seine Fußmuskulatur und sensibilisiert sein Körpergefühl: Da mit der Haut der Boden berührt wird, hat man so einen viel intensiverer Kontakt zur Umgebung.
Umgebungsreize nutzen
Bei jeder Bewegung und jedem Reiz von außen müssen sich die Zellen anpassen. Es macht einen Unterschied für die Muskeln, ob man spazieren geht oder 100 Meter mit maximaler Geschwindigkeit läuft. Auch die Füße reagieren unterschiedlich, je nachdem, ob sie in Schuhen oder barfuß spazieren gehen. Und es macht wiederum einen Unterschied, ob man 100 Meter barfuß auf Asphalt, Sandboden, Waldboden oder auf Kieselsteinen spazieren geht. Es ist ein anderer Reiz für den Körper, wenn man 100 Meter bei 30 Grad, 10 Grad oder bei minus 10 Grad Celsius läuft, und ebenso reagiert der Körper am Berg anders als am Meer. Und es macht einen Unterschied, ob wir uns in einem Fitnessstudio, im Wald oder einem Park bewegen.
Wer nie Kälte erfährt, weil man sich ausschließlich im Warmen aufhält, wird stärker frieren, wenn er plötzlich in eine kalte Umgebung kommt. Jemand, der sich immer in klimatisierten Räumen aufhält, wird größere Probleme mit der Hitze haben. Wer nie schwer hebt, wird Schwierigkeiten haben, wenn er plötzlich schwere Gegenstände bewegen soll. Wer nach langer Zeit das erste Mal wackelig über einen Baumstamm balanciert, wird merken, wie leicht ihm diese Bewegung auf einmal fällt, wenn er sie regelmäßig übt.
Das heißt, jeder Reiz erfordert einen Anpassungsprozess und ist eine gewisse Form von Training. Denn jeder Reiz führt dazu, dass der Körper lernt, sich besser an seine Umgebung und deren Anforderungen anzupassen. Und wenn man den Körper unterschiedlich vielen Reizen aussetzt, ist er entsprechend gut trainiert, passt sich an und ist damit stärker belastbar. Wir sollten uns also regelmäßig all diesen Reizen in der Natur aussetzen, dann wird der Körper schnell lernen, damit umzugehen.
In der Gruppe noch besser
Wenn die Natur als Trainingsgerät genutzt wird, gibt es neben den direkten körperlichen unzählige indirekte Erfahrungen. Die wertvollste Erkenntnis ist zu spüren, durch ein Training im Wald mit der Natur, dem eigenem Körper und dem Selbst eins zu werden. Aus dieser Erfahrung lässt sich eine enorme Kraft, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden schöpfen.
Wer sein Belohnungssystem noch zusätzlich aktivieren möchte, trainiert mit einem Trainingspartner oder in einer Gruppe. Kommt es zum Körperkontakt mit Mitsportlern, schüttet der Organismus das Kuschelhormon Oxytocin aus. Das Hormon senkt nicht nur das Stresshormon Kortisol und macht zufriedener, sondern es verbessert auch die Wundheilung und zeigt weitere positive Effekte. Damit macht ein Gruppen-Workout in der Natur nicht nur Spaß. Es ist ein wahrer Gesundheitscocktail, der auf allen Ebenen des Körpers wirkt und immer wieder ein tolles Erlebnis in der Natur schenkt.
Buchtipp: Natürlich fit
Felix Klemme: Natürlich fit.
Effektives Workout für Starter und Profis.
Knaur Balance, 218 S., München 2017, 19,99 Euro
Quelle: Klemme F, UGBforum 2/18, S. 61-63