Calcium: Wieviel brauchen wir wirklich?
Über neun Millionen Packungen Calciumpräparate gehen jedes Jahr über die Ladentische deutscher Apotheken. Hinzu kommen die Angebote aus Drogerie- und Supermärkten. Die Angst vor Osteoporose und die Werbung der Pharmakonzerne lassen viele zur täglichen Extraportion greifen. Brauchen wir wirklich soviel von dem Mineralstoff, oder kann eine zu hohe Zufuhr von Calcium sogar schädigen?
Calcium: Wichtig für Knochen, Zähne und mehr
Calcium ist für den menschlichen Organismus von größter Bedeutung. Zusammen mit Phosphor ist es das wichtigste Baumaterial für Knochen und Zähne. 99 Prozent des gesamten Calciums unseres Körpers befinden sich in diesen Hartgeweben. Der Rest liegt gelöst in Blut und Gewebe vor. Die Calciumionen erfüllen dort lebensnotwendige Aufgaben: Sie sind entscheidend für die Blutgerinnung, die Erregbarkeit von Nerven- und Muskelzellen und stabilisieren die Zellwände.
Als Nachrichtenübermittler innerhalb der Zellen aktivieren sie zudem zahlreiche Enzyme. Weil Calciumionen für viele Vorgänge im Körper erforderlich sind, hält der Organismus den Calciumspiegel im Blut in sehr engen Grenzen. Das gelingt über ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Hormone, in erster Linie von Parathormon, Vitamin-D-Hormon (Calcitriol) und Calcitonin. Außerdem sind Östrogene, Androgene, Schilddrüsen- und Wachstumshormone, Cortisol und Insulin beteiligt. Wenn zu wenig Calcium zugeführt wird, greift der Organismus auf seine Notreserve, das Knochengewebe, zurück. Unter dem Einfluß von Parathormon werden dann Calciumionen aus den Knochen freigesetzt, um das Absinken des Blutspiegels zu verhindern. Auf diese Weise geht bei andauernder Unterversorgung mit Calcium Knochensubstanz verloren.
Calciummangel vorbeugen - Wieviel Calcium ist notwendig?
Im Mittel scheiden wir jeden Tag 300 Milligramm Calcium über Urin, Stuhl und Schweiß aus. Dieser Verlust muß über die Nahrung ausgeglichen werden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt 220 Milligramm bzw. 330 Milligramm Calcium pro Tag für Säuglinge (unter 4 Monate bzw. unter 12 Monate) und 1000 Milligramm für Erwachsene. Personen mit einem erhöhten Bedarf sollten mehr zu sich nehmen: Jugendliche in der Wachstumsphase und Schwangere sowie Stillende unter 19 Jahren sogar 1200 Milligramm täglich. Diese Empfehlungen berücksichtigen, daß der Körper aus einer gemischten Kost nur 20-40 Prozent des enthaltenen Calciums resorbiert. Die Ausnutzung des Mineralstoffs ist also keineswegs optimal. Wieviel wir tatsächlich aufnehmen, hängt von mehreren Faktoren ab: Alter, Geschlecht, aktueller Calciumbedarf, Hormonhaushalt und die Zusammensetzung der Nahrung fördern oder hemmen die Calciumresorption. So nehmen Säuglinge aus Muttermilch 75 Prozent des Mineralstoffes auf, und Männer verwerten das Nahrungscalcium generell besser als Frauen. Bestimmte Stoffe in Pflanzen wie Phytin- und Oxalsäure bilden mit Calcium schwerlösliche Komplexe und verschlechtern die Aufnahme.
Ein wichtiger Partner von Calcium: Vitamin D
Die entscheidende Rolle bei der Resorption von Calcium spielt Vitamin D, ohne das eine bedarfsgerechte Aufnahme nicht möglich ist. Einen Beitrag zur Vitamin-D-Versorgung leisten nur wenige Lebensmittel wie Butter und fetter Fisch. Ausnahmsweise ist der Mensch im Fall von Vitamin D nicht ausschließlich auf die Nahrung angewiesen: Aus einer im Körper gebildeten Vorstufe wird das Vitamin bei ausreichender Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet. In den Nieren entsteht anschließend die eigentliche Wirkform des Vitamins, das Vitamin-D-Hormon. Das Hormon veranlaßt, daß in der Darmwand ein Protein gebildet wird, welches die Cal-ciumionen vom Darm ins Blut transportiert. Bei Vitamin-D-Mangel wird weniger Calcium aufgenommen, mit schweren Folgen für die Knochenmineralisierung. Wenn Kinder zu wenig Vitamin D zuführen oder bilden, kommt es zur Knochenverformung, der Rachitis.
Verhältnis von Calcium und Phosphor
Wichtig für eine gute Calciumausnutzung ist auch das Verhältnis von Calcium und Phosphor in der Nahrung. Phosphor bzw. Phosphat wird zu 60 Prozent resorbiert und ist Calcium in dieser Hinsicht überlegen. Wird wesentlich mehr Phosphat als Calcium aufgenommen, steigt der Phosphatgehalt des Blutes an. Da der Körper bemüht ist, ein ausgewogenes Calcium-Phosphor-Verhältnis im Blut aufrechtzuerhalten, mobilisiert er Calcium aus den Knochen, um das Mißverhältnis auszugleichen. Zudem wird durch viel Phosphat in der Nahrung die Resorption von Calcium vermindert. Deshalb sollte der Phosphatgehalt der Nahrung nicht wesentlich über dem von Calcium liegen. Bei einer ausgewogenen, naturbelassenen Ernährung ist dies kein Problem. Durch die heutigen Ernährungsgewohnheiten mit viel Fleisch und Wurst, Fertigprodukten und Erfrischungsgetränken wird jedoch häufig mehr Phosphat zugeführt als Calcium.
1000 mg Calcium sind enthalten in:
100 g Vollkornnudeln 30 g Parmesan 250 g Brokkoli 20 g Mohnsamen 100 ml Buttermilch ∑ 1000 mg Calcium |
oder |
200 g Joghurt 30 g Mandeln 200 g Vollkornbrot 35 g Emmentaler 200 g Fenchel ∑ 1000 mg Calcium |
Mit der richtigen Lebensmittelauswahl ist es kein Problem, auch ohne Tabletten auf die empfohlene Menge von rund einem Gramm Calcium täglich zu kommen. Selbst ein erhöhter Bedarf kann über Nahrungsmittel und geeignete Getränke gedeckt werden.
Calcium aus Pillen oder durch die Nahrung?
Man nehme gut lösliche Calciumsalze, Säuerungsmittel, Zuckeraustausch- und Süßstoffe, ein bißchen Farbe und Aroma - und fertig ist die Mineralstofftablette. Häufig werden Calciumcarbonat, -laktat oder -gluconat verwendet, deren Resorptionsrate bei 30 Prozent liegt. Angereicherte Fruchtsäfte enthalten meist Calcium-Citrat-Malat, das wegen seines Säuregehaltes noch etwas besser verfügbar ist. Sorbit, ein Zuckeraustauschstoff, der in vielen Süßwaren enthalten ist, reduziert dagegen die Ausnutzung von Calcium und löst bei manchen Menschen Bauchkrämpfe und Durchfälle aus. Um sich ausreichend mit Calcium zu versorgen, muß so viel Chemie jedoch nicht sein.
Milch und Milchprodukte wie Joghurt und Kefir sind mit einem Gehalt von etwa 120 Milligramm pro 100 Gramm die bedeutendsten Calciumquellen unserer Nahrung. Gleichzeitig fördern andere Inhaltsstoffe wie Milchzucker, Vitamin D, Milchsäure und Proteine die Aufnahme des Mineralstoffs. Die Bioverfügbarkeit aus diesen Lebensmitteln ist deshalb mit 30 Prozent sehr gut. Das gleiche gilt für Käse, der je nach Herstellungsart bis zu 1200 Milligramm Calcium je 100 Gramm enthalten kann. Hart- und Schnittkäse sind besonders calciumreich. Pflanzliche Lebensmittel leisten ebenfalls einen Beitrag zur Calciumversorgung, der bei gezielter Auswahl calciumreicher Gemüsesorten recht beachtlich sein kann. Aus Pflanzen wird der Mineralstoff allgemein schlechter genutzt; die Resorptionsrate liegt meist unter 20 Prozent. Pflanzenstoffe wie Oxal- und Phytinsäure aus Gemüse, Getreide und Samen vermindern die Verfügbarkeit zusätzlich. Nicht zu unterschätzen ist eine andere, flüssige Calciumquelle - Mineralwasser. Calcium liegt hier in ionisierter Form vor, in der es der Organismus gut aufnehmen kann. Ab einem Gehalt von 150 Milligramm pro Liter darf sich ein Mineralwasser calciumreich nennen.
Calcium-Versorgung bei Veganer: Es geht auch ohne Milch
Selbst wer aus gesundheitlichen, weltanschaulichen oder anderen Gründen Milchprodukte vom Speiseplan streicht, muß nicht automatisch zur Calciumtablette greifen. Verstärkt sollten dann allerdings alternative Calciumlieferanten wie Grünkohl, Brokkoli, Mandeln, Sesam und calciumreiches Mineralwasser in die Kost eingebaut werden.
Calciummangel bei Veganer - kritisch bei Kleinkinder
Bei einer Verzehrserhebung zeigte sich, daß Veganer, die keinerlei tierische Lebensmittel essen, im Vergleich zu Mischköstlern und Ovo-Lakto-Vegetariern am wenigsten Calcium aufnehmen. In Einzelfällen wurden Mangelzustände beobachtet, die meisten Veganer waren jedoch ausreichend versorgt. Vermutlich trägt eine gesteigerte Resorptionsrate sowie eine niedrige Proteinzufuhr (siehe unten) zu einer positiven Bilanz bei. Sehr kritisch zu bewerten ist die vegane Ernährung bei Kleinkindern, die oft nur 50 Prozent der empfohlenen Calciumzufuhr erreichen. Sie sollten ebenso wie Kinder, die wegen einer Milcheiweißallergie keine Milchprodukte vertragen, zusätzlich Calcium erhalten. Im Säuglings- und Kleinkindalter können allergenarme Spezialnahrungen auf Soja- oder Kuhmilchbasis gegeben werden, die mit Calcium und anderen Nährstoffen angereichert sind. Sojadrinks und -milch ohne Calciumzusatz sind kein gleichwertiger Ersatz für Kuhmilch, weil ihr Calciumgehalt zu gering ist. Durch calciumreiches Mineralwasser und angereicherte Fruchtsäfte kann die Zufuhr zusätzlich gesteigert werden. Doch Vorsicht bei Allergien: Manche dieser Säfte enthalten Milchprotein. Deshalb sollten Allergiker unbedingt die Zutatenliste beachten. Wenn Kinder die etwas bittere Milchersatznahrung und calciumhaltige Gemüsesorten ablehnen, ist es ratsam, unter ärztlicher Kontrolle den Bedarf durch ein niedrig dosiertes Calciumpräparat zu decken.
Ovo-Lakto-Vegetarier am besten mit Calcium versorgt
Ganz anders sieht die Versorgung der Ovo-Lakto-Vegetarier aus, die auch Milch, Milchprodukte und Eier verzehren. Hier liegt die Calciumzufuhr meist über dem empfohlenen Wert. Sie sind auch besser versorgt als der Durchschnitt der Bevölkerung, der überwiegend zu wenig Calcium aufnimmt. Befürchtungen, der hohe Ballaststoffanteil der vegetarischen Kost könne die Calciumversorgung verschlechtern, bestätigten sich nicht. Beide vegetarische Ernährungsformen haben zudem den Vorteil, daß sie weniger Protein enthalten als eine Mischkost. Die niedrigere Proteinaufnahme senkt die Ausscheidung von Calcium über die Nieren, hat also einen Spareffekt. Umgekehrt bewirkt eine hohe Proteinzufuhr, daß verstärkt Calcium ausgeschieden wird, und verschlechtert so die Bilanz.
Calcium: Schutz vor Osteoporose?
Die Angst vor Osteoporose ist vermutlich der Hauptgrund, weshalb viele Menschen zu Calciumpräparaten greifen.Vor allem Frauen nach der Menopause, aber auch Männer im höheren Lebensalter sind von dieser Krankheit betroffen. Bei Osteoporosepatienten baut sich der Knochen schneller ab als normalerweise und wird anfälliger für Knochenbrüche. Ob jedoch eine hohe Calciumaufnahme wirklich gegen Osteoporose hilft, ist in der Wissenschaft umstritten. Viele Studien sprechen zwar für den Nutzen einer gesteigerten Zufuhr, andere bezweifeln deren Wirksamkeit. Eines scheint jedoch sicher: Der nach der Menopause auftretende Östrogenmangel löst einen rasanten Abbau der Knochensubstanz aus. In den ersten fünf bis sieben Jahren nach der letzten Menstruation kann dieser Prozeß durch eine hohe Calciumzufuhr allein nicht verlangsamt werden. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wirkt sich eine Calciumgabe positiv aus, das heißt, der Knochenabbau läßt sich bremsen. Diese Wirkung kann jedoch auch mit Calcium aus der Nahrung erzielt werden. Entscheidend ist eine tägliche Zufuhr von 1000 bis 1500 Milligramm.
Die eigentliche Bedeutung des Calciums liegt in der Prävention
Wer von Kindheit an ausreichend Calcium zu sich nimmt, mineralisiert seine Knochen optimal. Nach dem 30. Lebensjahr wird kein zusätzliches Calcium mehr eingebaut. Vielmehr zehrt der Körper dann von dem bis dahin gebildeten Polster. Osteoporose wird außerdem durch eine zu geringe körperliche Aktivität gefördert. Viel Bewegung im Freien, so daß gleich auch Vitamin D gebildet werden kann, ist deshalb ebenso wichtig wie eine ausreichende Calciumzufuhr.
Calciumpräparate bei Calciummangel: Vorsicht vor Selbstmedikation
Calciumsupplemente sind Arzneimittel und sollten nicht leichtfertig geschluckt werden - schon gar nicht als wohlschmeckendes Erfrischungsgetränk, wozu manche Anbieter auf der Verpackung raten. Sie sind lediglich in bestimmten Situationen und bei einigen Krankheitsbildern erforderlich. Liegt ein Calciummangel vor, sollten als erstes die Ernährungsgewohnheiten unter die Lupe genommen werden. Erweist sich eine zusätzliche Zufuhr als nötig, müssen Dosierung und Dauer mit dem Arzt abgesprochen werden.
Eine unkontrollierte, überhöhte Calciumzufuhr kann mehr Schaden als Nutzen bringen. Sie verschlechtert die Aufnahme von Eisen, Zink und Magnesium und kann eine Unterversorgung mit diesen wichtigen Nährstoffen zur Folge haben.Werden mehr als 1500 Milligramm Calcium pro Tag zugeführt, scheidet der Körper die Überschüsse mit dem Urin aus. Dies kann vor allem bei Menschen mit entsprechender Veranlagung oder eingeschränkter Nierenfunktion die Bildung von Nierensteinen und -verkalkungen fördern. Einer Untersuchung zufolge stieg das Risiko für Nierensteine nur an, wenn Calcium als Präparat eingenommen wurde. Hohe Gehalte in der Nahrung senkten die Gefahr dagegen. Dieses erstaunliche Ergebnis führen die Autoren auf den positiven Einfluß bestimmter Substanzen wie z. B. Phosphat zurück, die in Milchprodukten enthalten sind. Bei einer länger andauernden Überdosierung von Vitamin D und gleichzeitig hoher Calciumzufuhr von mehr als 2000 Milligramm pro Tag wird die natürliche Resorptionsbarriere überwunden, und es kann eine Überversorgung entstehen, eine sogenannte Hypercalcämie. Die Folgen reichen von Appetitlosigkeit über Bewußtseinsstörungen bis hin zum Koma.
Wer glaubt, nicht ausreichend mit Calcium versorgt zu sein und vielleicht ab und zu Muskelkrämpfe hat, sollte einen Arzt aufsuchen. Von einer Selbstmedikation nach dem Motto "viel hilft viel" ist in jedem Fall abzuraten. Oft sind Mineralstoffpillen nur eine bequeme Methode, um nichts an liebgewonnenen, aber falschen Gewohnheiten ändern zu müssen. Eine gesunde Lebens- und Ernährungsweise ist der beste Garant dafür, ausreichend Calcium aufzunehmen und sich vor Osteoporose zu schützen - Nebenwirkungen oder Mangelerscheinungen ausgeschlossen.
LITERATUR:
CURHAN, G. et al. Comparison of dietary calcium with supplemental calcium and other nutrients as factors affecting the risk for kidney stones. In: Annals of Internal Medicine 7, Vol. 126, S. 497-503, 1997
DAWSON-HUGHES, B. et al.: A controlled trial of the effect of calcium supplementation on bone density in postmenopausal women. In: The New England Journal of Medicine, S. 878-883, 1990
FEIEREIS, H.; SALLER, R. (Hrsg.): 275 neue, noch unveröffentlichte Fragen und Antworten aus der Praxis. Band 3, München 1992
KASPER, H.: Ernährungsmedizin und Diätetik. 7. Aufl., Urban und Schwarzenberg, München 1991
LEITZMANN, C.; HAHN, A.: Vegetarische Ernährung. UTB, Stuttgart 1996