Kohlenhydrate: Diäten-Revolte
Als neue Welle schwappen kohlenhydratarme Diäten aus den USA zu uns nach Europa. Diesem Trend folgen die neuesten Low-carb-Produkte / Kreationen der Lebensmittel- und Pharmaindustrie. Schlemmen ohne Kalorienzählen und gleichzeitig Abnehmen, was steckt hinter diesem Versprechen?
"Ich konnte es gar nicht fassen: drei Kilogramm weniger, gibt´s das? Bin ehrlich sprachlos, dabei hatte ich das Gefühl ständig zu essen", schwärmt eine Diätbegeisterte im Internet-Chat. Diese Euphorie spiegelt sich in der Wissenschaft nicht unbegrenzt wider. Während Vertreter von kohlenhydratarmen Diäten an dem Dogma "Fett macht fett" rütteln, lehnen Ernährungsinstitutionen die angepriesenen Empfehlungen ab. Sie halten den berichteten Gewichtsverlusten entgegen, dass Studien über langfristige Folgen einer kohlenhydratarmen, aber fett- und eiweißreichen Kost bisher fehlen.
Vorreiter solcher Diäten war die bereits in den 70er Jahren publizierte Atkins-Diät. Sie stellt die gängige Ernährungspyramide auf den Kopf: Brot, Kartoffeln und andere kohlenhydratreiche Lebensmittel stehen an der Spitze und sollen möglichst wenig verzehrt werden. Stattdessen bilden tierische Lebensmittel wie Eier, Fisch und Fleisch die Basis der täglichen Kost. Dadurch erhöht sich die Proteinaufnahme drastisch. Bei Obst und Gemüse kommt es in der Diät auf die richtige Auswahl an. Als kohlenhydratarmes Gemüse ist Blattsalat der Favorit.
Schlank ohne Kohlenhydrate?
Kein Zweifel: Die Menschen werden bei der in Industrieländern typischen Kost immer dicker, obwohl gleichzeitig der Absatz fettarmer Produkte steigt. Hierdurch sehen sich die Verfechter der kohlenhydratarmen Ernährung bestätigt. Die Atkins-Diät zielt auf einen Kohlenhydratmangel ab, wobei ähnlich wie im Hungerzustand eine Ketose entsteht: Weil das Gehirn die wenigen vorhandenen Kohlenhydrate verbraucht, beziehen die anderen Gewebe Energie überwiegend aus Fettsäuren und Ketonkörpern. Das steigert zwar den Fettabbau, belastet aber die Nieren.
Neben der Atkins-Diät findet die vom Ernährungswissenschaftler Nicolai Worm vertretene LOGI-Methode (low glycemic index) viele Anhänger in Deutschland.
Sie geht auf die Ernährungspyramide des Harvard Professors David Ludwig aus Boston zurück und unterteilt Kohlenhydrate in zwei Gruppen: Solche mit hohem und niedrigem glykämischen Index (GI). Dieser gibt an, wie stark der Blutzuckerspiegel nach dem Verzehr von Kohlenhydraten ansteigt. Kohlenhydrate aus Lebensmitteln mit niedrigem GI gehen nur langsam ins Blut über. Weil Produkte aus Auszugsmehl und Kartoffeln den Blutzuckerspiegel steil ansteigen lassen, stehen sie in der LOGI-Pyramide auf einer Stufe mit Süßwaren. Vollkornprodukte schneiden in der Beurteilung etwas besser ab, werden aber nur in geringen Mengen empfohlen. Obst und Gemüse mit Raps-, Walnuss-oder Olivenöl zubereitet sind mengenmäßig die wichtigsten Bestandteile bei LOGI. Zusätzlich sollen viele proteinreiche tierische Lebensmittel, Hülsenfrüchte und Nüsse verzehrt werden.
Markt für Low-carb-Produkte boomt
Auch die GLYX-Diät nutzt den glykämischen Index für die Lebensmittelauswahl. Weil Lebensmitteln mit hohem GI wie Weißbrot den Blutzucker in die Höhe treiben, folgt eine hohe Insulinausschüttung. Insulin verhindert den Fettabbau aus den Fettzellen (Lipolyse), fördert die Energiebereitstellung aus Kohlenhydraten und sorgt dafür, dass Fett in die Depots eingelagert wird. Die Begründer der GLYX-Diät sehen in diesen Insulinwirkungen die Ursache für Übergewicht. Sie empfehlen aus diesem Grund, Lebensmittel mit hohem GI zu meiden und als Basis der Ernährung Kohlenhydrate aus Vollkornprodukten zu verzehren. Im Gegensatz zu kohlenhydratarmen Diäten besitzen proteinreiche, tierische Lebensmittel in der GLYX-Diät keine große Bedeutung. Die Lebensmittelauswahl ähnelt vielmehr der Vollwert-Ernährung.
Produkte für eine kohlenhydratarme Diät - lukrative Geschäfte
Weil das Problem des Übergewichts groß und der Wunsch zum Abnehmen stark ist, wittert die Industrie mit der neuen Low-carb-Welle ein gutes Geschäft. In deutschen Supermarktregalen fehlen spezielle kohlenhydratarme Produkte zwar noch. Doch über den Internethandel sind sie schon zu haben. Das Angebot der Low-carb-Produkte reicht von Schokolade, Pudding, Nudeln, Backmischungen für Brot und Pfannkuchen bis zu Frühstückscerealien. Sojaprotein, Weizengluten, Hühnereiweiß, resistente Stärke und Süßstoffe ersetzen verwertbare Kohlenhydrate. Und weil die Kunstprodukte kaum Mineralien und Vitamine enthalten, sind einige mit Vitaminen angereichert. Wer doch lieber die normalen, kohlenhydratreichen Lebensmittel genießen möchte, braucht sich keine Sorgen zu machen. Extra für Low-carb-Diäten entwickelte Tabletten hemmen das kohlenhydratspaltende Enzym Amylase und verhindern so die Aufnahme der "sündigen" Kohlenhydrate im Darm. Na dann: Guten Appetit.
So überzeugt wie die Anhänger der kohlenhydratarmen Diät sind, so stark lehnen die Gegner sie ab. Dafür gibt es eine Reihe plausibler Argumente. Eine amerikanische Studie zeigt, dass kohlenhydratarme Diäten anfänglich zwar zu einem größeren Gewichtsverlust führen als fettarme und kohlenhydratreiche Diäten, doch dieser Vorteil verliert sich nach einem Jahr. Außerdem belegen viele Studien, dass ein hoher Fettverzehr das Risiko für Arteriosklerose und Herzinfarkt erhöht.
Eine hohe Proteinzufuhr ist aus vielen Gründen problematisch. Abbauprodukte fördern durch ein Ungleichgewicht im Säure-Basenhaushalt das Osteoporoserisiko. Professor Lothar Wendt konnte überdies vor vielen Jahren zeigen, dass sich bei einer überkalorischen Kost mit Eiweißüberversorgung Proteine in den Wänden kleiner Blutgefäße und im Bindegewebe ablagern. Dies führt nach seiner Meinung zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und Rheuma. Auch aus Sicht einer nachhaltigen Ernährung muss der von Atkins und LOGI angeratene hohe Verzehr von Fleisch, Fisch und Eiern abgelehnt werden. Denn die Produktion tierischer Lebensmittel erfordert viel Energie und pflanzliche Proteine.
Kohlenhydratarme Diät: Zu Risiken und Nebenwirkungen ...
Auch an der GLYX-Diät gibt es Kritik. Zum einen lassen sich keine genauen GI-Werte ermitteln, da sie von Person zu Person stark schwanken können. Zum anderen berücksichtigt der glykämische Index die tatsächliche Kohlenhydratmenge in Lebensmitteln nicht. Wassermelonen und Möhren haben beispielsweise einen hohen GI, aber nur wenig Kohlenhydrate. So muss man von ihnen ungewöhnlich große Mengen verzehrt, um den Blutzucker in die Höhe zu treiben. Hinzu kommt noch, dass GI-Werte für einzelne Lebensmittel und nicht für Mahlzeiten berechnet werden.Da die Langzeitwirkungen der verschiedenen Diäten nicht belegt sind, ist vorsichtig mit den Versprechen umzugehen. Die derzeit gültigen Ernährungsempfehlungen nicht zu hinterfragen, wäre aber auch der falsche Weg. Zukünftige wissenschaftliche Studien müssen weiterhin die Rolle von Kohlenhydraten, insbesondere mit niedrigem GI, bei einer gesunden und langfristigen Gewichtsreduktion aufklären. In einem Punkt sind sich glücklicherweise alle Experten einig: Übergewicht entsteht durch eine zu hohe Energieaufnahme. Deshalb betonen alle einstimmig, dass zum Abnehmen auch viel Bewegung gehört.
Onlineversion von:
Rehrmann, N.: UGB-Forum 4/2004, S. 204-205