ADHS und Ernährung: Die oligoantigene Diät bei Kindern

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, kann in direktem Zusammenhang mit der Ernährung stehen. Ob und welche Lebensmittel bei Kindern mit ADHS die Symptome beeinflussen, lässt sich mit Hilfe der oligoantigenen Diät herausfinden und behandeln.

ADHS

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Eltern von Kindern mit ADHS beobachten immer wieder, dass ihre Kinder nach dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel mit einer deutlichen Verstärkung der Symptome reagieren. Warum Eltern diese Beobachtung nicht achtlos übergehen sollten, das belegen die neuesten Ergebnisse von Wissenschaftlern der Universitätsklinik Freiburg. Im Rahmen einer Ernährungsstudie untersuchen sie an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter den Zusammenhang zwischen Ernährung und Verhalten bei Kindern mit ADHS.

Ursachen von ADHS vielschichtig

ADHS entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel von genetischen und nicht-genetischen Faktoren. Oft wird die Störung bereits in der frühen Kindheit diagnostiziert. Bei ADHS denkt man zunächst einmal an den „Zappelphilipp“. Die Symptomatik geht zum Teil mit gravierenden Beeinträchtigungen bei der Erfüllung alltäglicher Aufgaben einher und kann langfristig auch im Erwachsenenalter die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen. Es gibt verschiedenste pharmakologische und nicht-pharmakologische Behandlungsansätze: hierunter Verhaltens- oder Ergotherapie sowie die Supplementierung mit verschiedenen Mikronährstoffen oder ungesättigten Fettsäuren. All das kann helfen, um eine Symptomverbesserung zu erzielen, muss aber nicht. An eine Nahrungsmittelsensitivität im Zusammenhang mit ADHS denkt zunächst einmal kaum jemand.

Lebensmittel können Symptome verstärken

Ein mögliches Zusammenspiel zwischen hyperkinetischem, also überaktivem Verhalten und den verzehrten Nahrungsmitteln haben Mediziner bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts beschrieben. Verschiedene Lebensmittel wie Milch, Getreide, Eier, Tomaten oder Schokolade wurden im Zusammenhang mit einer Symptomverstärkung bei ADHS diskutiert. Eine Studie der britischen Food Standards Agency (FSA) von 2007 zeigte, dass sowohl Natriumbenzoat als auch verschiedene Azofarbstoffe, die als Zusatzstoffe in Lebensmitteln vorkommen, die Aktivität und Aufmerksamkeit von Kindern beeinflussen können. In Abhängigkeit von der verzehrten Menge konnten Wissenschaftler signifikante Effekte hinsichtlich Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung bei gesunden Kindern beobachten. Hieraus resultierend hat die Europäische Union 2010 eine europaweite Deklarationsvorschrift von Produkten mit Azofarbstoffen beschlossen, mit dem Hinweis auf mögliche Verhaltensänderungen nach dem Verzehr dieser Zusatzstoffe.

Eine kritische Zusammenfassung der Beobachtungen aus den unterschiedlichen nicht-pharmakologischen Interventionen bei ADHS haben die US-amerikanischen Wissenschaftler Edmund J. S. Sonuga-Barke und Kollegen 2013 erstellt. Darunter sind auch Untersuchungen zum Einsatz der oligoantigenen Diät. Arbeiten von der Arbeitsgruppe um Professor Jan K. Buitelaar aus den Niederlanden zeigen starke Effekte einer individualisierten Diät. Die Einflussnahme von Ernährungsfaktoren auf die Ausprägung einer ADHS-Symp­tomatik kann prinzipiell über drei unterschiedliche Wege erfolgen:
1. Ausschluss von Lebensmitteln oder einzelnen Lebensmittelbestandteilen, die allgemein unter Verdacht stehen, ADHS-Symptome begünstigen.
2. Ergänzung einer ausgewogenen Ernährung durch bestimmte Mikronährstoffe.
3. Testung auf individuelle Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Meiden bzw. Eliminieren der identifizierten, symptomverstärkenden Lebensmittelbestandteile.

Oligoantigene Kost als Diagnosediät

Neben der Aufklärung über gesunde Ernährung und Nahrungsergänzung ist die oligoantigene Diät ein wichtiges Instrument zur Diagnose. Es können damit individuelle Nahrungsmittelsensitivitäten erkannt werden. Die oligoantigene Diät lässt hierbei nur Lebensmittel zu, die für den größten Teil der Bevölkerung ein sehr geringes allergenes Potenzial besitzen. Erlaubt sind daher viele Gemüse- und Obstsorten, glutenfreie Getreide und Kartoffeln (siehe Tab. 1). Ausgelassen werden beispielsweise alle Produkte, die Farb- oder Süßstoffe enthalten, aber auch Lebensmittel, die häufig eine Unverträglichkeit auslösen wie Kuhmilch, Ei, Fisch, Soja oder Nüsse (siehe Tab. 2, S. 299). In den Behandlungsoptionen zu Hyperkinetischen Störungen ist die oligoantigene Diät in den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF) zwar mit aufgeführt. In Deutschland wurde sie bisher aber nur sehr selten in der therapeutischen Begleitung bei ADHS angewendet.

Lebensmittel in der Diätphase Tabelle

Die aktuelle Studie der Kinder- und Jugendpsychiatrie Freiburg zum Einfluss von einzelnen Nahrungsbestandteilen auf das Verhalten von Kindern mit ADHS soll nun prüfen, ob diese Behandlungsform im Alltag der Familien umsetzbar und ambulant durchführbar ist. An der Studie nehmen aktuell Kinder im Alter zwischen 7 und 18 Jahren mit einer gesicherten Diagnose eines ADHS teil. Ziel ist es, ganz individuell unverträgliche Lebensmittel zu identifizieren und durch deren Elimination aus dem Speiseplan die ADHS-Symptomatik dauerhaft deutlich zu verbessern.

Die oligoantigene Diät wird hierbei nur in der Diagnosephase für einen begrenzten Zeitraum von vier Wochen eingesetzt. In dieser Zeit werden im Körper viele Reaktionen auf unverträgliche Lebensmittel ausgeschaltet. Der ganze Körper kann sich erholen. Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben Pause. Tritt in den ersten zwei Wochen der strengen Diät keine deutliche Besserung auf, wird eine weitere Anpassung der Lebensmittelauswahl an das jeweilige Kind vorgenommen. Die Lebensmittelauswahl wird hier noch einmal an bestehende Begleitsymptome angeglichen. Das kann unter anderem bedeuten, dass mögliche Kreuzallergien mit einfließen. Bei Kindern, die nach Anpassung noch immer keine Veränderung der ADHS-Symptome zeigen, vermuten wir dann erst einmal keinen Zusammenhang zwischen Ernährung und Symptomen.

Verhalten gezielt beobachten

Als Messinstrument für den Einfluss der Ernährung auf das Verhalten der Kinder mit ADHS beurteilen täglich – sowohl zu Hause als auch in der Schule – ein Elternteil und ein Lehrer anhand von ausgewählten Standardsituationen das Verhalten des Kindes. Diagnoseinstrument ist hier die verkürzte Conners Scala. Die sogenannte ADHD Rating Scale dient zur Einschätzung der Symptomatik durch einen Experten und wird zur Auswertung der beobachteten Veränderungen herangezogen.

Bisher wurden 18 von 50 Kindern mit der Diagnose ADHS in die Studie aufgenommen. Die Akzeptanz der Diät war gut, 16 der 18 Patienten beendeten die Diätphase. Bei 10 Kindern besserte sich die ADHS Symptomatik um mehr als 40 Prozent, was für einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ernährung und Verhalten steht. Bei 14 von 16 Kindern konnte in mindestens einem Teilbereich (Aufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) eine Besserung von mehr als 40 Prozent beobachtet werden. Die Diät wirkte sich stärker auf die Aufmerksamkeit aus als auf Hyperaktivität beziehungsweise Impulsivität.

Alle Kinder, die eine Mindestverbesserung zeigen, werden anschließend in der Wiedereinführungsphase nach und nach wieder mit den Lebensmitteln ihrer üblichen Ernährung konfrontiert. Lebensmittel, die im Zusammenhang mit der Symptomatik des ADHS stehen, zeigen beim Testkontakt einen Effekt auf das Verhalten des Kindes. Dieser Effekt lässt sich durch gezielte Nachtestung reproduzieren. Am Ende der Wiedereinführung der Lebensmittel stehen dann individuell ein oder mehrere Lebensmittel(-bestandteile) fest, die an der Ausprägung der ADHS Symptomatik beteiligt sind. Auf der Basis dieser Ergebnisse wird für die Kinder eine praktikable individuelle Diät-Empfehlung erstellt.

Ernährungsumstellung gelingt

Die Umsetzung der oligoantigenen Diät bedeutet vorübergehend eine deutliche Umstellung der bisherigen Ernährung. Die Diagnosephase wird nur zu Beginn als arbeitsintensiv empfunden. Hierfür ist nicht nur das reduzierte Lebensmittelangebot verantwortlich, oft wird es auch notwendig, auf vielgenutzte Fertigprodukte oder Lieblingsspeisen zu verzichten. Essen außer Haus will ebenfalls gut geplant sein; so ist beispielsweise die Teilnahme am Schulessen in der Test- und Wiedereinführungsphase nicht möglich. In den teilnehmenden Haushalten erfordert dies einen gewissen logistischen Aufwand. Damit die Umsetzung gelingt, erhalten die Familien alle notwendigen Informationen über die Auswahl an diätkonformen Produkten, eine ausführliche Rezeptsammlung bis hin zu gemeinsamen Kochangeboten, um die Diät sicher, erfolgreich und genussvoll durchführen zu können.

Die teilnehmenden Familien haben in den meisten Fällen in der Testphase die Ernährung für alle Familienmitglieder umgestellt. Dadurch findet keine Ausgrenzung aus der familiären Ernährungssituation für das Kind statt. Durch eine gute Vorbereitung der Familien auf die geänderte Ernährungssituation, gezielte Planung für besondere Situationen und eine enge beratende Begleitung ist eine erfolgreiche Umsetzung in den Familien gut gelungen.

Begeisterte Studienteilnehmer

Stimmen aus den Reihen der Teilnehmer spiegeln die Begeisterung und den Erfolg der Ernährungsumstellung wider. So berichtet eine Mutter nach der dritten Diätwoche: „Wir hatten seit Jahren zum ersten mal wieder eine normale Familie ohne diesen permanenten Streit unter den Geschwistern.“ Eine andere Mutter, die für den Ferienaufenthalt alle Lebensmittel gut vorbereitet mitgegeben hat, erzählt stolz: „Die Lehrerin hat gesagt, dass mein Sohn im Schullandheim genau so unauffällig war, wie die anderen Kinder.“ Ein Vater gibt das Lob aus dem Verein weiter: „Der Fußballtrainer lobte seine Aufmerksamkeit und sein faires Verhalten im Spiel, wo er doch sonst immer als aggressiv und störend erlebt wurde.“ Aber auch andere Veränderungen fallen auf: „Ihre Handschrift ist zum ersten mal gut leserlich und deutlich.“ Und eine ganz wichtige Erkenntnis aus der Testphase wurde so formuliert: „Meine Kinder merken jetzt selbst, wenn sie etwas gegessen haben, was sie nicht vertragen.“

Nicht erlaubte Lebensmittel Tabelle

Die Teilnahme an einer Ernährungsanpassung zur Besserung der Symptomatik ist immer mit mehr Aufwand als eine Einnahme von Medikamenten verbunden. Mit Blick auf die Erfolge aus der Freiburger Studie lohnt sich diese Testung sicher für nahezu Zweidrittel der Patienten, bei denen durch gezieltes Weglassen einzelner Nahrungsbestandteile die ADHS-Symptome, weitgehend frei von Nebenwirkungen, deutlich verbessert wird. Die langfristigen Erfolge werden nach etwa einem Jahr evaluiert. Die medizinische als auch diätetische Begleitung der Familien während der Diätdurchführung ist nach unseren Erfahrungen erforderlich. Von einer Durchführung ohne diese fachliche Begleitung raten wir ab.

Quelle: Clement C. Fleischhaker C. UGBforum 6/2016, S. 296-299