Überempfindlich gegen Gluten?

Immer mehr Menschen meinen, Weizen und andere Getreide nicht zu vertragen. Eine Zöliakie oder eine Allergie lassen sich jedoch nicht nachweisen. Gibt es tatsächlich so etwas wie eine Überempfindlichkeit gegenüber dem Getreideeiweiß Gluten?

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Es mehren sich in letzter Zeit Berichte und Beobachtungen an Patienten, die keine Zöliakie haben und trotzdem kein Gluten vertragen. Bis vor wenigen Jahren wurde dieses Phänomen von den meisten Ärzten abgestritten und die Patienten als „Spinner“ abgetan. Diese Einschätzung hat sich jedoch grundlegend verändert. Die Mehrzahl der Fachwelt ist sich heute darüber einig, dass es eine sogenannte Glutensensitivität gibt, die nichts mit der Zöliakie zu tun hat. Wissenschaftler der Charité Berlin vermuten beispielsweise, dass bis zu 20 Prozent der Reizdarmpatienten in Wirklichkeit unter einer Glutenempfindlichkeit leiden könnten. 2010 und 2012 trafen sich international anerkannte Experten, um das noch kaum beachtete Krankheitsbild der Glutensensitivität näher zu charakterisieren.

Leider verfügen Mediziner bislang nicht über Marker oder Blutwerte, mit denen man diese medizinisch relevante Unverträglichkeit direkt nachweisen könnte. Daher ist Glutensensitivität im Grunde eine Ausschlussdiagnose. Bei entsprechenden Verdachtssymptomen, die zum Beispiel Reizdarmpatienten häufig zeigen, ist folglich der erste Diagnoseschritt, die Autoimmunerkrankung Zöliakie sicher auszuschließen. Ebenso muss abgeklärt werden, ob eine echte Nahrungsmittelallergie gegen Weizen vorliegt. Das erfolgt mit einer IgE-Antikörperbestimmung im Blutserum. Anschließend wird den Patienten empfohlen, für ca. zwei Wochen eine glutenfreie Diät einzuhalten. Wenn in der Folge die Beschwerden sich deutlich bessern oder ganz verschwinden, liegt vermutlich eine Glutensensitivität vor. Zur Sicherheit sollte der Patient sich nach ein paar Monaten erneut mit Gluten belasten, um herauszufinden, ob die Symptome wiederkehren. Nur dann macht eine Weizen- bzw. Glutenbeschränkung medizinisch Sinn.

Reaktion noch unklar

Welche Stoffwechseldefekte bzw. Immunreaktionen für das Krankheitsbild „Glutensensitivität“ verantwortlich sind, ist noch nicht genau erforscht. Man weiß aber, dass es nicht zur Bildung zöliakie- oder allergietypischer Antikörper kommt. Die Darmschleimhaut dieser Patienten sieht völlig normal aus und ist im Gegensatz zu Zöliakiekranken nicht geschädigt. Zwar lassen sich tatsächlich unterschiedliche Reaktionen des Immunsystems auf alte Getreidesorten und neue Züchtungen nachweisen. Dass dadurch ein höheres Risiko für Zöliakie oder eine Glutensensitivität besteht, ist bislang aber wissenschaftlich nicht belegt.

Letztendlich handelt es sich bei der Glutensensitivität um eine Befindlichkeitsstörung mit Symptomen, die nach ein paar Tagen unter einer glutenfreien Ernährung wieder verschwinden. Über die Häufigkeit lassen sich nur ungenaue Angaben machen. Bei Zöliakie rechnen Wissenschaftler damit, dass 0,2-1 Prozent der Bevölkerung hierzulande betroffen ist; die Rate für Glutensensitivität ist noch unbekannt. Man geht jedoch davon aus, dass sie häufiger als Zöliakie vorkommt. Sie hinterlässt aber nach derzeitigem Wissensstand keine Folgeschäden. Echte Nahrungsmittelallergien auf Weizen sind deutlich seltener.

Meist keine strenge Diät nötig

Ein wichtiger Unterschied zwischen Zöliakie und Glutensensitivität liegt in den diätetischen Anforderungen. Zöliakiepatienten müssen sich strikt und lebenslang glutenfrei ernähren. Wenn man aber medizinisch eine Zöliakie ausgeschlossen hat, und die Patienten positiv auf eine glutenfreie Diät ansprechen, dann müssen sie diese auf Dauer meist nicht ganz so streng einhalten. Das heißt, sie müssen nicht immer und überall auf jeden „Krümel“ achten, wie Zöliakiepatienten dies tun müssen. Die Schwelle, bis zu der Gluten vertragen wird, kann man allerdings nur individuell austesten. Hilfreich ist, dass im Zuge der Lebensmittelkennzeichnung Zutaten aus Weizen und anderen glutenhaltigen Getreidearten auf der Verpackung angegeben werden müssen. Für glutenfreie Lebensmittel ist zudem EU-weit festgelegt, dass sie höchstens 20 Milligramm pro Kilogramm Gluten enthalten dürfen. Zusätzlich gibt es das Symbol der durchgestrichenen Ähre, das Glutenfrei-Siegel der Deutschen Zöliakie Gesellschaft.

Diagnose beim Arzt unverzichtbar

Eine Diät „nach Büchern“ kann jedoch kein Ersatz für eine sorgfältige medizinische Diagnose als Grundlage einer nachhaltig wirksamen Therapie sein. Denn es gibt über Weizen und Gluten hinaus eine Vielzahl möglicher Unverträglichkeiten oder Intoleranzen bei Lebensmitteln. Dabei sind die Symptome teilweise ähnlich, die Ursachen aber ganz unterschiedlich, wie zum Beispiel bei einer Laktose- oder Fruktoseunverträglichkeit oder bei „echten“ Nahrungsmittelallergien, beispielsweise auf Nüsse, Soja, Fische und Schalentiere, Kuhmilch oder Hühnereier.

Gluten nicht einfach weglassen

Eine glutenfreie Ernährung als unbedachte Ernährungsempfehlung für gesunde und abnehmwillige Menschen ist aus den genannten Gründen völlig überflüssig. Es gibt keinerlei Evidenz dafür, dass eine glutenfreie Diät beim Abnehmen hilft oder Übergewicht vorbeugt – so wie es manche Diät-Coaches oder Prominente in den Medien verkünden.

Auch ein Verzicht auf Weizen, der insbesondere in den USA populär ist, macht keinen Sinn. Obwohl er sowohl an Übergewicht als auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen schuld sein soll, hat sich die Herzinfarktrate in den letzten 20 Jahren bei uns fast halbiert. Und das trotz des gestiegenen Verzehrs von Getreideprodukten. Und ein ganz wichtiger Punkt, der von der Anti-Weizen und Anti-Kohlenhydrate-Fraktion unberücksichtigt bleibt: Wie soll man ohne Getreide die über sieben Milliarden Menschen auf unserem Planeten bedarfsgerecht ernähren? Weltweit ist Weizen als eines der Hauptnahrungsmittel und als Energieversorger Nummer eins unentbehrlich.

Wer gegen Kohlenhydrate bzw. Getreide argumentiert, lässt zudem völlig außer Acht, dass insbesondere Vollkornprodukte einen unverzichtbaren Beitrag zu einer bedarfsgerechten Versorgung mit Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen leisten. Vor allem letztere sind offenbar in erster Linie präventiv wirksam: als Schutz vor Darmkrebs, für die Blutdruckkontrolle, zur Vorbeugung kardiovaskulärer Erkrankungen oder als Beitrag zur Immunfunktion. Zweifellos gibt es Forschungsbedarf, um besser zu verstehen, wie und warum Zöliakie bzw. Glutensensitivität entstehen, damit betroffenen Patienten noch besser zu helfen ist – das unqualifizierte Schüren einer Gluten- oder Weizenhysterie ist dabei jedoch nicht hilfreich.

Quelle: Holtmeier, W.: UGB-Forum 4/13, S. 204-205
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