Multiple Sklerose und Ernährung
Eine gezielte Lebensmittelauswahl kann den Verlauf einer Multiplen Sklerose beeinflussen. Das zeigen Erfahrungen naturheilkundlicher Ernährungskonzepte sowie zahlreiche Studien. Betroffene sollten daher die Möglichkeiten der Ernährungstherapie nutzen, um die konventionelle Behandlung sinnvoll zu ergänzen.
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, vergleichbar etwa einem chronisch entzündlichem Rheuma. Gemeinsam sind schubförmige Verläufe, zwischen denen bei der MS jedoch oft längere, bis jahrelange beschwerdefreie Zeiten liegen können. Daneben existiert bei MS eine gut abgrenzbare zweite Verlaufsform, die sogenannte chronisch progressive Form ohne nennenswerte Schübe. Die Ursachen für MS sind noch weitgehend unklar. Der größte Patientenverband, die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V., sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sehen keinen Zusammenhang zwischen der Manifestation der Erkrankung und Ernährungs- oder anderen Umweltfaktoren. Erfahrungen von Patienten, ärztliche Beobachtungen und epidemiologische Erkenntnisse lassen ernährungstherapeutische Ansätze dagegen in einem anderen Licht erscheinen.
Verschiedene Ernährungskonzepte
Seit der Zeit von Max Bircher-Benner (1867-1939) gab es mehrere Bewegungen, die für Frischkostkonzepte bei chronischer Entzündung eintraten, vor allem bei Rheuma. Die Konzepte wurden trotz ihrer Erfolge kaum wissenschaftlich untermauert. In Europa hat die von der deutschen Apothekerin und Chemikerin Johanna Budwig (1908-2003) begründetet Öl-Eiweiß-Ernährungsform in jüngster Vergangenheit größere Popularität erfahren. Die Diät soll anti-entzündlich, aber auch krebshemmend wirken und sieht einen hohen Anteil an pflanzlichen Omega-3-Fettsäuren aus Leinöl vor. Zentraler Bestandteil ist die Budwig-Crème (siehe Kasten) oder Varianten wie die Budwig-Mayonnaise, die überwiegend aus Leinsamen, kaltgepresstem Leinöl, Quark und Hüttenkäse hergestellt wird, ergänzt durch frisches Obst. Die Budwig-Diät wird in Einzelfällen von Patienten mit Multiple Sklerose oder Rheuma praktiziert. Die Sonnenberg-Klinik in Bad Soden Allendorf, eine große Fachklinik für Menschen mit bösartigen Erkrankungen, die sich seit geraumer Zeit um naturheilkundliche Konzepte bemüht, bietet ihren Patienten beispielsweise einen Budwig-Quark an und vermittelt Kenntnisse zu dieser extrem kohlenhydratarmen Kostform.
3 El frisches Leinöl
3 El rohe Milch
100 g Quark (mager)
1 Teelöffel Honig
• Zur Geschmacksunterstützung mit Zimt oder Vanille würzen.
• Obst nach Saison verwenden und mit der Creme vermischen.
Die Schweizer Ärztin Dr. Catherine Kousmine (1904-1992) entwickelte eine weitere Ernährungsform für MS und chronische Polyarthritis, die ebenfalls krebshemmend, aber auch anti-entzündlich wirken soll. In der Kousmine-Diät spielt die Budwig-Crème eine wichtige Rolle. Darüber hinaus kommen Elemente wie Darmhygiene, Säure-Basen-Gleichgewicht, Nahrungsergänzungsmittel mit hoch dosierten Vitaminen und Spurenelementen sowie psychosoziale Betreuung zum Einsatz. Kousmine ging davon aus, dass viele Krankheiten auf einen zu hohen Säureanteil im Körper aufgrund von falscher Ernährung zurückzuführen seien. Patienten sollten regelmäßig den pH-Wert des Urins ermitteln und bei Unterschreiten eines festgelegten Werts basische Nahrungsergänzungsmittel einnehmen. In ihrem Buch „Die Multiple Sklerose ist heilbar“ werden 55 Patienten mit MS beschrieben, die mit dieser Ernährung angeblich geheilt wurden.
Frischkost zeigt Vorteile
Eine naturbelassene Vollwertkost wurde von Dr. med. Joseph Evers (1894-1975) speziell für MS-Kranke entwickelt und über viele Jahre in der nach ihm benannten Spezialklinik praktiziert. Er betreute dort ab 1940 über 12.000 MS-Patienten und stellte seine Frischkost in den Mittelpunkt der Therapie. Durch die vorwiegend vegetarische Ernährung, kombiniert mit fettarmen Milchprodukten, wird weniger entzündungsfördernde Arachidonsäure zugeführt, die vor allem in Fleisch steckt. Die positiven Wirkungen der Diät führte er zusätzlich auf weitere Inhaltsstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, sekundäre Pflanzenstoffe, Antioxidanzien und essenzielle Fettsäuren zurück. Das Konzept wurde jedoch trotz der großen Zahl der behandelten MS-Patienten nicht wissenschaftlich bearbeitet.
Eine weitere Ernährungsform entwickelte der US-Neurologe Roy L. Swank (1909-1999). Sie baut zwar auf Omega-3-Fettsäuren auf, stellt aber vor allem eine fettarme Diät dar. Er modifizierte seine Richtlinien später immer wieder, plädierte aber durchgängig für eine vegetarisch orientierte Kost, die insbesondere wenig tierische Fette enthalten sollte. Statt Butter empfahl er 14 Milliliter flüssige Pflanzenöle und 5 Milliliter Fischöl täglich. Ein Kollektiv von etwa 400 Patienten, dass sich nach den Swank’schen Prinzipien ernährte und das er bis in sein hohes Alter intensiv nachbeobachtete, wies nach seinen Angaben 30 Jahre später eine deutlich höhere Überlebensrate auf.
Mittelmeerküche ideal
Die vorgestellten Kostformen sind doch recht einseitig ausgerichtet. Die mediterrane Kost vereinigt dagegen mehrere Vorteile der verschiedenen Konzepte:
- hoher Anteil an unerhitzten oder schonend erhitzten pflanzlichen Lebensmitteln
- wenig Fleisch und Fleischprodukte (wenig Arachidonsäure)
- günstiges Fettsäurenmuster durch pflanzliche Öle und Nüsse
- komplexe Kohlenhydrate mit geringer Insulinwirkung
Fasten als Therapie
Eine Art Basistherapie bei der rheumatoiden Arthritis stellt in der naturheilkundlichen Tradition in Mitteleuropa das Fasten dar. Es ist anzunehmen, dass sich die positiven Effekte auch auf andere Autoimmunerkrankungen übertragen lassen. Bei der MS gibt es wesentlich weniger Fallberichte, keine klinischen Studien und unter Fastenärzten auch keinen breiten Konsens. Dies scheint vor allem mit der Befürchtung begründet zu sein, durch die Veränderungen in der ersten Fastenphase einen Krankheitsschub auslösen zu können. Allerdings wird immer wieder insbesondere von Patienten, die zum Teil in Eigenregie fasten, von anschließenden langanhaltenden beschwerdefreien Zeiten berichtet.
Fisch und Vitamin D
Der US-Neurologe Roy L. Swank beobachtete bei seinen Feldforschungen in Norwegen bereits 1935-48, dass das Verhältnis der Neuerkrankungen für MS zwischen den Küsten- und den Binnenregionen etwa 1:9 betrug. Wegen der großen Unterschiede im Fischkonsum ging er davon aus, dass dieser einen Schutzeffekt ausübt. Später stellte er auch in der Schweiz einen deutlichen Unterschied zwischen italienisch- und deutschsprachigen Landesteilen fest, den er auf unterschiedliche Konsumgewohnheiten vor allem bei tierischen und pflanzlichen Produkten zurückführte.
Mehrere epidemiologische Quer- und auch Längsschnittsstudien in verschiedenen Erdteilen konnten einen direkten Zusammenhang der MS mit dem geografischen Breitengrad sowie der Vitamin-D-Konzentration im Blut aufzeigen. Auch Fallkontrollstudien in den USA wiesen einen deutlichen Zusammenhang zwischen MS und der durchschnittlichen Vitamin D-wirksamen UV-Strahlung nach. Dabei erhöht sich das relative Risiko um 3,78 in Gegenden mit der geringsten verglichen mit der größten Strahlung. Zudem erwiesen sich eine erhöhte Aufnahme von Vitamin D mit der Ernährung sowie erhöhte Serumspiegel für Vitamin D als vorbeugend bezüglich MS. Bei japanischen MS-Patienten wurde eine Genvariante gefunden, die ebenfalls auf eine erhöhte Empfindlichkeit für MS durch Vitamin-D-Mangel hinweist.Die Vitamin-D-Hypothese wird dadurch gestützt, dass sich eine fischreiche Ernährung offenbar für Erkrankung wie Verlauf günstig auswirkt. Denn Fisch ist ein ausgezeichneter Vitamin-D-Lieferant. Er macht in der hiesigen Ernährung etwa die Hälfte der Vitamin-D-Zufuhr aus.
Heute gilt als relativ gesichert, dass ein Vitamin-D-Mangel die Entwicklung einer MS begünstigt. Basis ist vermutlich eine genetische Disposition und möglicherweise das Zusammenwirken anderer Einflüsse wie ungünstige Nahrungsfette. Der Vitamin-D-Status sollte daher bei Personen mit erblicher Belastung wie mit manifester MS-Erkrankung untersucht werden und im Falle eines nachgewiesenen Mangels offensiv angegangen werden. Allerdings sind die Möglichkeiten, durch Vitamin-D-reiche Lebensmittel wie Pilze und Fisch die durchschnittliche Zufuhr von etwa 200 I.E. deutlich zu übertreffen, recht begrenzt. Erstaunlicherweise wurde schon vor über 20 Jahren eine vielversprechende unkontrollierte Interventionsstudie veröffentlicht, in der allerdings alle Patienten zusätzlich zum Vitamin D auch Calcium und Magnesium erhielten. Die erste sogenannte randomisierte, also auf zufälliger Verteilung beruhende Studie mit der alleinigen Gabe von Vitamin D wurde erst im Februar 2011 begonnen.
Schützt mehr Gemüse?
Im Landesinneren von Kroatien ist die Zahl der neu an MS Erkrankten nahezu zweimal so hoch wie in Küstenregionen, etwas geringer ausgeprägt sind die Unterschiede in der Erkrankungsrate. Ähnliche Unterschiede fanden Experten bei Krebserkrankungen, die sie durch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten erklärten. Sie folgerten, dass auch bei MS eine Ernährung mit viel Fleisch und Fett, jedoch wenig Gemüse das Risiko erhöhe. Als einen wirksamen Schutzstoff diskutieren die Wissenschaftler Oleocanthal, eine Verbindung, die vor allem in extra-virgine Olivenöl vorkommt. Im Labor hemmt sie die Cyclooxygenase, ein Enzym, das bei der Zerstörung der Myelinschicht der Nervenzellen beteiligt ist.
Die vermutlich größte Fallkontrollstudie mit 197 Erkrankten und 202 Kontrollpersonen aus Kanada legt ebenfalls einen schützenden Effekt durch einen hohen Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln nahe. Gegenteilige Effekte zeigten dagegen überhöhte Aufnahmen an Nahrungsenergie sowie tierischen Fetten. Ein Mangel an Folsäure, Magnesium, Zink, Selen und Eisen wirkte sich als zumindest ungünstig auf den Verlauf der Erkrankung aus.
Omega-3-Fettsäuren haben sich in vielen Studien bei rheumatoider Arthritis als entzündungshemmend erwiesen. Aufgrund epidemiologischer Daten sowie auch nach den Erfahrungen mit der Swank- sowie der Budwig-Diät scheinen sie auch bei MS die Entzündung günstig zu beeinflussen. Ein kürzlich veröffentlichter Review der renommierten Cochrane-Stiftung kommt allerdings zu einem ernüchternden Ergebnis. Danach lässt sich keine positive Schlussfolgerung ziehen.
Bei MS-Kranken zeigten sich in Versuchen auch Omega-6-Fettsäuren, insbesondere Gamma-Linolensäure, von Vorteil, die in Form von entsprechenden Ölkonzentraten aus Nachtkerze, schwarzer Johannisbeere und Borretsch in Kapselform eingenommen wurden. Im Körper entsteht aus der Gamma-Linolensäure eine weitere Omega-6-Fettsäure, die Dihomogamma-Linolensäure, die wiederum ein Vorläufer eines anti-entzündlichen Prostaglandins ist. Gamma-Linolensäure weist grundsätzlich ähnliche therapeutische Einsatzbereiche wie die Fischölsäuren EPA und DHA auf, ist jedoch wesentlich weniger klinisch untersucht worden.
Für Omega-3-Fettsäuren ist eine gute Versorgung leicht möglich. In Anlehnung an Erkenntnisse aus der Rheumatologie wird die minimale tägliche Aufnahme meist mit ca. zwei Gramm pro Tag angegeben. Die nötige Dosierung von Omega-3-Fettsäuren hängt stark von der gleichzeitigen Aufnahme von Omega-6-Fettsäuren ab, insbesondere der Arachidonsäure. Wird diese durch weniger Fleisch, Fleischprodukte und Eier gedrosselt, sind auch geringere Mengen an Omega-3-Fettsäuren wirksam.
Gluten weglassen?
Ob die Aufnahme von Gluten bei MS nachteilig ist, wird immer wieder diskutiert. Denn Zöliakie ist mit einem gehäuften Auftreten weiterer Autoimmunerkrankungen verbunden. Unklar ist allerdings noch, ob dies das Ergebnis einer genetischen Veranlagung ist, oder ob Gluten andere Autoimmunphänomene bedingt. Eine Zöliakie kann zudem mit neurologischen Symptomen auftreten, die eine MS regelrecht überdecken. Aus klinischen Studien kann diese Frage derzeit nicht beantwortet werden. Jedoch werden immer wieder eindrucksvolle Fallbeispiele veröffentlicht, wie sich eine MS nach Diagnose und Therapie einer Zöliakie verbessert. Kürzlich wurde die erste kleinere systematische Arbeit hierzu mit der Bestimmung von Zöliakie spezifischen Antikörpern veröffentlicht. Man fand eine hochsignifikante Erhöhung zumindest für einen Teil der Antikörper. Für diese Konstellation spricht man heute auch von silent sprue, einer oft über lange Zeit asymptomatischen Vorform. Eine Untersuchung bei iranischen MS-Patienten konnte dagegen solche Zusammenhänge nicht sichern.
Was ist zu tun?
Umfassende Ernährungskonzepte wie die angesprochene Budwig-, Swank-, Kousmine- oder Evers-Diät scheinen sich bei vielen MS-Kranken günstig ausgewirkt zu haben. Sie sind derzeit die aussichtsreichsten Kandidaten für eine therapeutisch wirksame grundlegende Ernährungsumstellung. Zusammen mit der mediterranen Kost stehen somit glaubwürdige Ernährungsweisen zur Verfügung, um die MS-Therapie zu unterstützen. Einzelne Nährstoffe wie Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren verdienen besondere Aufmerksamkeit. Ihre Aufnahme sollte mindestens den Empfehlungen entsprechen. Ob höhere Mengen sinnvoll sind, müssen weitere Studien noch klären.
Quelle: Stange, R.: UGB-Forum 4/11, S. 192-195
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