Neue Pyramiden braucht das Land?
Die Flut an Ernährungspyramiden mit unterschiedlichsten Empfehlungen verunsichert die Verbraucher. Nun gibt es zusätzlich ein neues, dreidimensionales Modell des Verbraucherministeriums. Ob damit alles klarer wird, muss die Praxis nun zeigen.
Am 21. März 2005 hat Verbraucherministerin Renate Künast "ihre" neue Ernährungspyramide vorgestellt. Sie wurde in Zusammenarbeit mit ihrem Ministerium, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) und dem aid infodienst erarbeitet. Das Modell will eindeutig und leicht verständlich vermitteln, wie eine gesunde Ernährung heute aussehen soll. Die Institutionen haben sich bemüht, die Empfehlungen zur Lebensmittelmenge mit qualitativen Gesichtspunkten der Lebensmittelauswahl zu verknüpfen. Um in dem Schaubild mehr Platz für differenzierte Empfehlungen zu bekommen, kam Künast bereits in ihrem Buch "Die Dickmacher" auf die Idee, eine neue Ernährungspyramide räumlich darzustellen. Für den Computer wurde eine drehbare Pyramide entwickelt, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene spielerisch an ausgewogene Ernährung heranführen soll (Modell zum Anschauen hier). Vorgesehen sind auch 3-D-Modelle zum Selberbasteln im Unterricht. Aufgeklappt lässt sich die räumliche Pyramide zweidimensional in der Form einer Kompass-Windrose abbilden .
Low-Carb spielt keine Rolle
Die Grundfläche des Gebildes ruht auf dem Ernährungskreis der DGE. Er zeigt die empfohlenen Mengen der einzelnen Lebensmittelgruppen. Auf jeder der vier spitz zulaufenden Seiten ist eine Nährstoff- bzw. Produktgruppe dargestellt: Lebensmittel vorwiegend pflanzlichen Ursprungs (Kohlenhydrate), Lebensmittel vorwiegend tierischen Ursprungs (Eiweiß), Speisefette/Öle sowie Getränke. Ganz unten sind jeweils die Lebensmittel platziert, die in dieser Gruppe als besonders empfehlenswert gelten. Die Spitze besteht aus den Produkten, die in der geringsten Menge auf den Tisch kommen sollten. Sortiert wurde innerhalb einer Gruppe hauptsächlich nach der Energie- und Nährstoffdichte. Einig waren sich die wissenschaftlichen Baumeister, dass der viel diskutierte glykämische Index bei der Beurteilung der Lebensmittel weiterhin nur nachrangig zu betrachten ist. Auch der aktuellen Low-Carb-Welle, bei der der Anteil an kohlenhydratreichen Lebensmitteln zum Teil drastisch reduziert ist, erteilen die Experten eine Absage. Vollkornprodukte sollen ihrer Ansicht nach weiterhin einen wichtigen Baustein unserer Ernährung bilden. Im Gegensatz zu früheren Abbildungen finden sie sich in der Pyramide dennoch oberhalb von Gemüse und Obst. Grund ist die Sortierung nach Energie- und Nährstoffdichte sowie präventiven Aspekten, und da liegen Gemüse und Obst klar vorn.
Studien aus den USA belegen den Zusammenhang zwischen dem Konsum von Softdrinks und Übergewicht. Positiv ist daher, dass den Getränken eine eigene Pyramidenseite gewidmet wurde und damit die Bedeutung des Trinkens mehr ins Bewusstsein rückt. Unverständlich bleibt allerdings, warum Fruchtsaftschorlen in einer Linie mit Lightgetränken abgebildet sind, die vor künstlichen Süß- und Aromastoffen nur so strotzen. Von einer gleichwertigen ernährungsphysiologischen Qualität kann da wohl kaum die Rede sein.
Neues Modell erreicht nicht alle Ziele
Nimmt man das dreidimensionale Gebilde zur Hand, entsteht zuerst der Eindruck, Fisch und Fleisch, Gemüse und Obst sowie pflanzliche Fette seien gleichrangig und sollten in den gleichen Mengen verzehrt werden. Denn diese Lebensmittel bilden die Basis der Pyramide. Der Kreis, der die empfohlenen Mengen zeigt, ist nur zu sehen, wenn man das Modell auf den Kopf stellt - eine eher unübersichtliche Lösung. Auf der Pyramidenseite mit den vorwiegend tierischen Lebensmitteln, scheinen Fleisch und Fleischwaren auf den ersten Blick günstiger als Milchprodukte, da Fleisch grafisch näher an der Basis liegt. In den Erläuterungen erfährt man aber, dass sie gleichrangig zu bewerten sind. Hier werden einmal mehr die inhaltlichen Grenzen einer grafischen Darstellung deutlich, was die Herausgeber auch keineswegs bestreiten. Es wäre dennoch sinnvoller gewesen, die Platzierungen von Milch und Fleisch auszutauschen, nicht zuletzt aus ökologischer Sicht. Aus dem gleichen Grund ist auch die unkommentierte Empfehlung, mehr Fisch zu essen, nicht zu verantworten. Denn die Fischbestände der Weltmeere sind bereits stark überfischt.
Ein weiteres Ziel der Experten war es, mit den grafischen Empfehlungen dem sich ausbreitenden Übergewicht entgegenzuwirken. Die Bedeutung ausreichender Bewegung bleibt jedoch unberücksichtigt und findet auch in den Erläuterungen zur Ernährungspyramide keine Erwähnung. Die aktuellen US-amerikanischen Empfehlungen sind diesbezüglich schon einen Schritt weiter. Sie machen ganz konkrete Angaben für die wünschenswerte tägliche Bewegung: mindestens 30 Minuten für den Durchschnittsbürger und bis zu 90 Minuten für Übergewichtige.
Ernährungsökologie bleibt unberücksichtigt
Insgesamt bleibt fraglich, inwiefern die neue Darstellung mehr Klarheit bei der riesigen Produktvielfalt im Supermarkt bringt. Denn die jeweiligen Lebensmittelgruppen sind nur auf wenige Stellvertreter reduziert. Will beispielsweise jemand wissen, wie sein Fertigmüsli einzustufen ist, so hilft ihm die neue Pyramide nicht viel weiter. Das ehrgeizige Ziel, durch die dreidimensionale Darstellung mehr Klarheit für die Verbraucher zu schaffen, ist damit wohl kaum erreicht. Auch die Herkunft der Lebensmittel ist in einer grafischen Darstellung nur schlecht unterzubringen. Zumindest in den Begleittexten ließe sie sich aber durchaus thematisieren. Doch weder ökologische Qualität noch regionale und saisonale Aspekte finden Erwähnung. Auch der Verarbeitungsgrad der Lebensmittel bleibt außen vor. Diese Gesichtspunkte erwähnt die Ernährungsministerin in ihrem Buch, das sehr schön das Phänomen Übergewicht beleuchtet, immerhin am Rande. Bei den Empfehlungen ging dieser Ansatz jedoch vollständig verloren. Von einer Ministerin, die sich seit Jahren für den Bio-Anbau stark macht, hätte man mehr erwarten dürfen. Unverständlich auch, dass sie die bekannte Fachliteratur zur Vollwert-Ernährung nicht berücksichtigt hat, dafür aber Populisten wie Pollmer und Worm.
Ob die gewünschten Inhalte tatsächlich transportiert werden und wie viel Information letztlich bei der Zielgruppe ankommt, bleibt ungewiss. Dem ist sich die Expertenrunde aber durchaus bewusst. Sie wollen ihr Modell daher auch als Diskussionsgrundlage verstanden wissen, das sich in der Praxis erst bewähren und gegebenenfalls nachgebessert werden muss. Bleibt zu wünschen, dass in der Weiterentwicklung die angesprochenen Unklarheiten ausgeräumt und auch die Ernährungsökologie sowie die vielfältigen sozialen Aspekte des Ernährungssystems berücksichtigt werden.
Quelle: Becker, U.: UGB-FORUM 3/05 S. 143-144