Sekundäre Pflanzenstoffe: Substanzen mit vielen Unbekannten
Noch vor wenigen Jahren bewertete die Ernährungswissenschaft sekundäre Pflanzenstoffe als gesundheitlich unbedeutend oder gar schädlich. Heute geht die Forschung davon aus, dass diese Substanzen Krankheiten vorbeugen und für die langfristige Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit ein notwendiger Nahrungsbestandteil sind.
Seit Anfang der 1990er Jahre beschäftigt sich die Ernährungsforschung vermehrt mit sekundären Pflanzenstoffen. Dieses Interesse ist zweifach begründet. Zum einen wird vermutet, dass die gesundheitsfördernden Auswirkungen einer pflanzenbetonten Ernährung mit viel Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Getreide und Nüssen wesentlich auf deren Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen zurückzuführen sind. Zum anderen erhoffen sich Pharma- und Lebensmittelindustrie, mit einmal identifizierten und isolierten Einzelsubstanzen gewinnbringende Nahrungsergänzungsmittel und funktionelle Lebensmittel herstellen zu können.
Während sekundäre Pflanzenstoffe eigentlich die Aufgabe haben, Schädlinge abzuwehren und Insekten anzulocken, entfalten sie im menschlichen Organismus zahlreiche gesundheitsfördernde Effekte (Tab. 1). Etliche epidemiologische Studien zeigen, dass ein hoher Verzehr von Gemüse und Obst das Risiko für bestimmte Krankheiten deutlich verringert. So treten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Adipositas, rheumatoide Arthritis, Asthma, Osteoporose, neurologische Erkrankungen und bestimmte Augenerkrankungen (Makuladegeneration) bei hohem Gemüse- und Obstverzehr signifikant seltener auf. Für die Mechanismen, warum pflanzliche Nahrung die menschliche Gesundheit positiv beeinflusst, gibt es zwar gewisse Erklärungsansätze, im Grunde sind diese aber wissenschaftlich ungeklärt. Kurzum: Wir wissen bis heute nicht, warum das Essen von Gemüse und Obst gesund ist.
Kaum Vergleichbares in tierischen Lebensmitteln
Kohlenhydrate, Ballaststoffe, Proteine und Fett zählen zu den primären Pflanzenstoffen. Sie sind für den Stoffwechsel der Pflanze von lebensnotwendiger Bedeutung. Sekundäre Pflanzenstoffe werden weder im Energiestoffwechsel produziert noch sind sie für die Aufrechterhaltung des Lebens zwingend erforderlich. Sie stellen eine heterogene Gruppe von Substanzen dar, kommen in sehr unterschiedlichen Mengen in Pflanzen vor und sind oft spezifisch für diese. Ihre Funktionen sind mannigfaltig: Sie übernehmen zum Beispiel Signal- und Pigmentfunktionen, wirken als Abwehrgifte gegen Pilze und Schädlinge, schützen vor UV-Licht und negativen Umwelteinflüssen oder bilden Farb-, Duft- und Aromastoffe. Im menschlichen Organismus wirken sie antioxidativ, tumorpräventiv und fangen freie Radikale. Bemerkenswert ist, dass es in tierischen Lebensmitteln so gut wie keine Substanzen gibt, die in ihrer Wirkung mit den sekundären Pflanzenstoffen vergleichbar sind; abgesehen von den Zoochemicals Omega-3-Fettsäuren in Fisch und Milchsäure in gesäuerten Milchprodukten.
Unerforschte Vielfalt
Bei mehr als 250.000 höheren Pflanzen auf der Erde ist anzunehmen, dass es mindestens genauso viele sekundäre Pflanzenstoffe gibt. Bislang wurden etwa 80.000 davon identifiziert. In der menschlichen Nahrung werden 5000 bis 10.000 sekundäre Pflanzenstoffe vermutet. Da der weltweite Kalorienbedarf zu 90 Prozent durch den Verzehr von etwa 30 Pflanzen gedeckt wird, konzentriert sich die wissenschaftliche Forschung auf diese wenigen Nahrungspflanzen. In den einzelnen pflanzlichen Lebensmitteln ist jeweils nur eine begrenzte Anzahl sekundärer Pflanzenstoffe vorzufinden, zum Beispiel in Zwiebeln etwa 70-100, in Äpfeln 200-300 oder in Tomaten 300-350. Gemüse weist – wie auch bei den Vitaminen – in der Regel höhere Gehalte auf als Obst.
Die bislang hauptsächlich erforschten sekundären Pflanzenstoffe zählen zu den Klassen der Carotinoide, Phytosterine, Glucosinolate, Polyphenole (Flavonoide, Phenolsäuren) und Phytoöstrogene (Isoflavonoide, Lignane). Wenige Untersuchungen liegen zu Saponinen, Monoterpenen, Sulfiden, Chlorophyll und Phytinsäure vor. Flavonoide sind die am weitesten verbreiteten sekundären Pflanzenstoffe. Bisher wurden mehr als 6500 verschiedene Verbindungen identifiziert. Bei anderen Verbindungsklassen besteht nach wie vor ein großer Forschungsbedarf, der größte Teil der sekundären Pflanzenstoffe in unserer Nahrung wurde bislang nicht identifiziert (Tab. 2).
Zufuhrempfehlung unbekannt
Mit der üblichen gemischten Kost nimmt der Mensch täglich mehrere Gramm sekundäre Pflanzenstoffe auf. Bei Vegetariern liegt diese Menge oftmals deutlich höher. Über die Bioverfügbarkeit von sekundären Pflanzenstoffen aus Lebensmitteln ist jedoch wenig bekannt. Während Carotinoide, Glucosinolate, Phytoöstrogene, Monoterpene und Sulfide vom Körper mit über 15 Prozent relativ gut aufgenommen werden, gibt es bei Flavonoiden teils gut, teils aber auch sehr schlecht verfügbare Verbindungen (Tab. 3).
Die Zubereitung von Lebensmitteln kann die Bioverfügbarkeit bestimmter Stoffe erhöhen. So werden Beta-Carotin und Lykopin aus erhitzten Möhren bzw. Tomaten besser vom Körper aufgenommen. Andererseits können beim Garen in Wasser bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe verloren gehen. So sind Glucosinolate, Phenolsäuren und Protease-Inhibitoren hitzeempfindlich, ebenso wie die sauerstoffhaltigen Carotinoide Lutein und Zeaxantin. Saponine und Glucosinolate werden zum Teil ausgelaugt. Andere Substanzen wie Phytoöstrogene oder Polyphenole überstehen dagegen diverse Zubereitungsverfahren, industrielle Verarbeitungsschritte und längere Lagerzeiten.
Sekundäre Pflanzenstoffe befinden sich in Gemüse und Obst meist in den Schalen, äußeren Schichten und Blättern. Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Teil der sekundären Pflanzenstoffe bis in den Dickdarm gelangt und dort in Abhängigkeit von der Zusammensetzung der Darmflora unterschiedlich verstoffwechselt wird. Über das Ausmaß dieser unterschiedlichen Verstoffwechslung ist bislang nichts bekannt. Durch den mikrobiellen Umbau werden manche Verbindungen erst bioaktiv oder stärker wirksam. Für den Großteil der sekundären Pflanzenstoffe fehlen derzeit zuverlässige Daten bezüglich Bioverfügbarkeit, Metabolisierung und Wirkmechanismen. Dies erklärt, dass bislang auch keine wissenschaftlich begründeten Zufuhrempfehlungen existieren. Einzig für Beta-Carotin geben die deutschsprachigen Ernährungsgesellschaften einen Schätzwert von 2-4 Milligramm für die tägliche Zufuhr an. Diese Menge ist über den Verzehr von Gemüse wie Grünkohl, Möhren, Wirsing und Paprika leicht zu erreichen.
Verlängern Polyphenole das Leben?
Polyphenole zählen aus ernährungswissenschaftlicher Sicht zu den interessantesten sekundären Pflanzenstoffen. In vitro, also im Reagenzglas, entfalten sie eine der stärksten antioxidativen Wirkungen von Nahrungsbestandteilen und aktivieren im Organismus Gene, welche radikalfangende Enzyme codieren. Polyphenole werden von der Pflanze zur Abwehr von Stress und Verletzungen gebildet. Die mehr als 10.000 Substanzen werden in mehrere Klassen eingeteilt, die große Vielfalt erschwert eine Nomenklatur. Für die Ernährung des Menschen sind deutlich weniger Verbindungen relevant.
Eine an Polyphenolen reiche Ernährung reduziert das Risiko für chronische Krankheiten, insbesondere für die kardiovaskulären Erkrankungen. Schützende Wirkungen sind auch bei Stress, Rauchen, Entzündungen und vor UV-Strahlung zu beobachten. Es verdichten sich die Indizien dafür, dass eine regelmäßige Zufuhr von Polyphenolen nötig ist, um die volle Lebensspanne erreichen zu können und gleichzeitig das Risiko für chronische Krankheiten zu minimieren. Aufgrund dieser vor allem für das Alter sehr wichtigen Funktion von Polyphenolen haben Wissenschaftler diese als lifespan essentials definiert.Mangel erhöht Erkrankungsrisiko
Epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass über die Nahrung aufgenommene sekundäre Pflanzenstoffe präventiv wirken. Es lässt sich jedoch nicht sagen, ob diese günstigen Effekte überwiegend auf einzelnen Verbindungen oder auf dem komplexen Spektrum der in Pflanzen vorkommenden Nährstoffe basieren.
Gesundheitsfördernde Wirkungen sekundärer Pflanzenstoffe auf das Gefäß- und Nervensystem sind belegt. Ein langfristig zu niedriger Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln – insbesondere Gemüse und Obst – ist heute als potenzieller krankmachender Faktor anzusehen. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall und Bluthochdruck gilt die präventive Wirkung der sekundären Pflanzenstoffe mit „überzeugender Evidenz“ als wissenschaftlich nachgewiesen. Bei Krebs ist die Evidenz wahrscheinlich, bei Demenz, Adipositas, rheumatoider Arthritis, Asthma, Osteoporose und Makuladegeneration möglich. Bis heute wurde für keinen einzelnen sekundären Pflanzenstoff der Nachweis erbracht, dass dieser für sich allein in physiologisch relevanter Konzentration das Krankheitsrisiko senkt. Dagegen ist die positive Wirkung einer pflanzenbetonten Kost mit viel Gemüse und Obst unumstritten.
Food Synergy: Schlüssel zur gesunden Ernährung
In der wissenschaftlichen Literatur ist im Jahre 2001 erstmals der Begriff food synergy aufgetaucht. Damit verfolgt der US-amerikanische Ernährungsforscher David Jacobs von der School of Public Health der University of Minnesota einen neuen Denkansatz, um die Nahrungswirkungen zu verstehen. Grund für die Entwicklung dieses Konzepts der Nahrungssynergie waren die enttäuschenden Ergebnisse von Studien, die auf einer stark vereinfachenden Herangehensweise basieren. Vor allem die vielen Interventionsstudien mit Vitaminsupplementen haben ernüchternde Resultate gebracht.
Laut Jacobs sind die Nahrungsinhaltsstoffe im Lebensmittel koordiniert, das heißt aufeinander abgestimmt, und entfalten in ihrer intakten Gesamtheit additive und synergistische Effekte. In diesem Zusammenwirken der Stoffe sieht Jacobs das gesundheitsfördernde Wirkprinzip einer pflanzenbetonten, gering verarbeiteten Kost. Er spricht symbolhaft von der „hypothesis of orchestrated food synergy“. Im Konzept der food synergy wird auch betont, dass Lebensmittel eine Pufferwirkung im Zuge der Verdauung haben, wodurch Nährstoffe langsamer freigesetzt werden und teilweise in geringerem Maße aufgenommen werden. Nährstoffe aus naturbelassenen Lebensmitteln haben danach andere Wirkungen als solche, die einem technologischen Prozess unterworfen wurden.
Laut Jacobs sollte sich die Forschung deshalb mehr den Wirkungen kompletter Kostformen widmen. Es bestätigt sich zunehmend der hippokratische Ansatz, Nahrung als Medizin betrachten zu müssen. So resümiert der Ernährungsphysiologe Prof. Andreas Hahn, der sich an der Universität Hannover intensiv mit der Wirkung von Lebensmitteln als Arzneimittel beschäftigt: „Lebensmittel üben viel umfänglichere Wirkungen aus als früher angenommen. Sie tragen nicht nur zur Nährstoffversorgung im engeren Sinne bei, sondern besitzen gleichermaßen präventive und diätetisch-therapeutische Effekte.“
Gemüse und Obst schützen am sichersten
Zahlreiche Studien zeigen, dass es nie zu spät für eine Ernährungsumstellung ist. So wird das Risiko für die Entstehung chronischer Erkrankungen durch einen erhöhten Konsum von Gemüse und Obst in einem relativ kurzen Zeitraum von nur fünf Jahren deutlich verringert. Die günstigen Auswirkungen einer pflanzenbetonten Ernährung werden bereits innerhalb weniger Wochen am Hauterscheinungsbild sichtbar und sind anhand der Veränderungen von Risikofaktoren wie Gewichtsreduzierung, niedrigerem Blutdruck oder verbesserten Blutfettwerten messbar.
Anschrift des Verfassers: Dr. oec. troph. Edmund Semler Institut für Agrar- und ErnährungswissenschaftenUniversität HalleVon-Danckelmann-Platz 2D-06120 Halle/Saale [email protected]
Literatur
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Quelle: UGB-Forum 2/13, S. 58-60