Acrylamid: Verbraucher tappen im Dunkeln
Im April 2002 gerieten Lebensmittel wie Kaffee, Knäckebrot und Kartoffelchips wegen ihrer Belastung mit Acrylamid in die Schlagzeilen. Doch Hersteller und Behörden gehen nur halbherzig vor, um das krebsverdächtige Gift aus belasteten Produkten zu verbannen.
Acrylamid ist buchstäblich in aller Munde. Denn es kommt in vielen Lebensmitteln vor - angefangen bei Cornflakes über Kaffee bis zu Kartoffelchips und Pommes. Die Substanz entsteht beim Erhitzen stärkehaltiger Lebensmittel unter Anwesenheit von Aminosäuren, insbesondere Asparagin. Typische Verarbeitungsschritte, bei denen das Gift entsteht, sind etwa Rösten, Frittieen oder Backen. Kochen ist dagegen ungefährlich, da hier das Wasser und niedrige Temperaturen die Bildung behindern. Nach bisherigen Erkenntnissen ist Acrylamid im Tierversuch Krebs erregend und Erbgut verändernd. Ob das auch für den Menschen zutrifft, ist bislang noch unbewiesen.
Da es für Krebs erregende Substanzen keinen Schwellenwert gibt, sollte aus Vorsorgegründen jegliche vermeidbare Belastung mit Acrylamid unterbleiben. Deshalb muss die Substanz so schnell wie möglich aus den Lebensmitteln verschwinden. Die großen Fragen bis dahin sind: Auf welchem Weg kann das erreicht werden? Und wie können Verbraucher stark Acrylamidhaltige Lebensmittel meiden?
Betroffene Marken bleiben unbenannt
Anhand von so genannten Signalwerten will die Bundesregierung die Acrylamidbelastung in Lebensmitteln stufenweise minimieren. Die Signalwerte werden vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) für derzeit neun verschiedene Warengruppen ermittelt (s. Tab.). Dazu sammelt das BVL die Analysenergebnisse aus den Untersuchungsämtern der Länder und anderen Studien. In den einzelnen Warengruppen werden diejenigen Produkte identifiziert, die zu den zehn Prozent der am stärksten mit Acrylamid belasteten Lebensmittel gehören. Der niedrigste Messwert innerhalb dieser stark belasteten Gruppe gilt als Signalwert. Generell sollen Produkte in die Minimierungsbemühungen einbezogen werden, wenn sie mehr als 1.000 Mikrogramm Acrylamid pro Kilogramm aufweisen. Bei Kartoffelpuffern, -chips und Lebkuchen ist der Signalwert derzeit allerdings noch höher angesetzt, weil viele Hersteller den Wert hier bislang nicht einhalten können.
Die Überwachungsbehörden informieren Hersteller, deren Produkte oberhalb der Signalwerte liegen, über die Ergebnisse und fordern diese lediglich auf, durch geänderte Rezepturen und Herstellungsverfahren die Acrylamidgehalte zu senken. Die Verbraucher erfahren hingegen nicht, welche Marken betroffen sind. Aus den Supermarktregalen müssen die betroffenen Produkte auch nicht verschwinden.
Hersteller lassen sich zu viel Zeit
Während Industrie und Regierung sich bei Acrylamid auf dem richtigen Weg wähnen, sprechen aktuelle Messungen eine andere Sprache. Stellvertretend für stärker belastete Produkte hat die Verbraucherorganisation foodwatch Kartoffelchips dreimal im Abstand von jeweils zwei Monaten untersuchen lassen. Stichproben vom Juli 2003 förderten immer noch Höchstbelastungen von über 2.000 Mikrogramm pro Kilogramm zutage. Fünf von 22 Messwerten lagen über 1.000 Mikrogramm pro Kilogramm und damit nicht besser als zu Anfang des Jahres - darunter bekannte Markenhersteller wie Procter & Gamble (Pringles) oder Lorenz (Crunchips). Andererseits schaffen es einzelne Hersteller, Chips herzustellen, die mit deutlich unter 200 Mikrogramm pro Kilogramm belastet sind und damit auf dem Niveau einiger Brotsorten liegen. Ausgerechnet Bio-Chips des belgischen Herstellers Tra´fo wiesen die höchsten Acrylamidwerte auf. Das Problem ist der Firma seit Anfang 2003 bekannt. Vertreter des Unternehmens sagten zu, das Herstellungsverfahren zu verbessern und die Werte durch weniger dunkles Frittieren zu senken. Doch konnte Tra´fo dieses Versprechen bisher nicht halten.
Problematisch zeigten sich in anderen Untersuchungen noch weitere Bioprodukte wie Nuss-Nougat-Cremes, Kakaogetränke oder Schokolade. Ursache der hohen Belastungen war nach Angaben des Naturkostherstellers Rapunzel die Verwendung von Vollrohrzucker, der traditionell über Feuer eingedickt wird. Die dabei erzielten Temperaturen reichen aus, damit Fructose mit der im Saft enthaltenen Aminosäure Asparagin zu Acrylamid reagiert. Inzwischen ist die Produktionsweise verändert worden. Der Zucker wird jetzt komplett im Vakuumverfahren eingedickt. Die Bio-Firma berichtet, dass sich die Messwerte der betroffenen Produkte dadurch nur noch an der Nachweisgrenze bewegen. Bioprodukte sind ebenso wie konventionelle Waren nicht vor Belastungen natürlichen oder verarbeitungstechnischen Ursprungs gefeit. Doch zeigt das Beispiel von Rapunzel, dass Biohersteller in der Regel offener mit ihren Messwerten umgehen und auch tatsächlich bestrebt sind, schnellstmöglich zu reagieren.
Getreidekaffee kann stark belastet sein
Größere Mengen Acrylamid entstehen beim Rösten von Kaffee, insbesondere von Getreidekaffee. Eine vom nordrhein-westfälischen Verbraucherministerium veröffentliche Messung zeigte im Mai diesen Jahres bei zwei untersuchten Stichproben nach wie vor Belastungen von über 2.000 Mikrogramm pro Kilogramm Ersatzkaffee. Eine Tasse kann nach Angaben des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) bis zu 16,4 Mikrogramm enthalten. Da diese Konzentration beim Genuss größerer Mengen erheblich zur Acrylamidbelastung beitragen kann, ist vom regelmäßigen Trinken von Getreidekaffee abzuraten bzw. sind nur solche Sorten zu empfehlen, die niedrige Werte aufweisen. Allerdings veröffentlicht das BVL seine Messwerte ohne Angabe von Produktnamen. Auskunft über aktuelle Messwerte spezieller Marken erhalten Verbraucher deshalb allenfalls direkt beim Hersteller.
In die Diskussion um belastete Produkte ist auch das Vollkornmehl geraten. Untersuchungen der Bundesanstalt für Getreide-, Kartoffel- und Fettforschung (BAGKF) ergaben, dass Backwaren aus Vollkornmehl unter Umständen mehr Acrylamid als Weißmehlprodukte enthalten. Bedingt durch den höheren Ausmahlungsgrad sind mehr Aminosäuren und Zucker im Mehl enthalten. Beim Backen können diese Ausgangssubstanzen zur Acrylamidbildung beitragen. Allerdings sieht Dr. Norbert Haase von der BAGKF keinen Grund dafür, generell vor Vollkornprodukten zu warnen. Aus Gründen des vorbeugenden Verbraucherschutzes sollten aber Dauerbackwaren und Rezepturen mit erhöhtem Acrylamidpotenzial kritisch betrachtet werden.
Kinder reagieren empfindlicher auf Gifte
Besonders Kinder und Jugendliche sind durch das Krebs erregende und Erbgut verändernde Acrylamid gefährdet. Zum einen reagiert ihr Organismus empfindlicher, zum anderen nimmt diese Altersgruppe ein Drittel der täglichen Acrylamidmenge über Chips auf, wie eine in der WELT (24.4.2003) in Auszügen veröffentlichte Verzehrsstudie unter Berliner Schülern ergab. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat dies auf Nachfrage bestätigt. Neben Chips sind auch Pommes frites oder Kekse ein bedeutender Faktor bei der Aufnahme von Acrylamid. Denn diese Lebensmittel sind bei Kindern und Jugendlichen besonders beliebt. Nach "grober Abschätzung" des BfR liegt die tägliche Acrylamidbelastung pro Bundesbürger bei durchschnittlich 0,6 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht. "Für Personen mit starkem Verzehr hoch belasteter Produkte kann die Acrylamidaufnahme mehrfach höher liegen", warnen die Experten. 15- bis 18-Jährige, die regelmäßig viel Cornflakes, Knäcke, Pommes, Chips oder belastete Kekse essen, nehmen laut BfR täglich rund 3,4 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht auf. Das Wissenschaftliche Komitee für Lebensmittel der Europäischen Union geht davon aus, dass bei Kindern im Allgemeinen eine zwei- bis dreimal höhere Dosis je Kilogramm Körpergewicht zusammenkommt als bei Erwachsenen.
Zu wenig Druck auf Hersteller
Die von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen sind ungeeignet, um die Acrylamidwerte in belasteten Lebensmitteln kurzfristig zu senken. Da veröffentlichte Messwerte in der Regel nicht bestimmten Produkten zugeordnet werden können, entsteht kein Druck auf die Hersteller, sich zu beeilen. Vielmehr gewinnen sie Zeit, weil nur die Betriebe der jeweils höchst belasteten Produkte aufgefordert werden, ihre Produktionsverfahren zu ändern. Alle anderen Hersteller können wie gehabt backen, frittieren und toasten, bis sie vielleicht irgendwann einmal eine Benachrichtigung erhalten. Zwar reagieren die meisten angesprochenen Unternehmen und versuchen ihre Herstellungsverfahren entsprechend zu verbessern, Sanktionsmöglichkeiten gibt es aber keine.
Bei einem Expertentreffen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde angesichts der Besorgnis erregenden Acrylamidfunde dringender Forschungsbedarf festgestellt. Erst wenn stichhaltige Daten vorliegen, ließe sich zuverlässiger abschätzen, wie groß das tatsächliche Krebsrisiko für den Menschen ist. Unstrittig ist die Krebs erregende und Erbgut schädigende Wirkung im Tierversuch. Es ist aus Vorsorgegründen davon auszugehen, dass dies auch für den Menschen gilt. Um die Probleme in den Griff zu bekommen, empfehlen die WHO-Experten Transparenz und Offenheit bei Risikobewertung und Risikomanagement. Dabei sollten Verbraucher, Hersteller und Handel beteiligt werden.
Neben Schweden ist Deutschland das einzige Land, dass mit einem Bündel von Maßnahmen auf die Acrylamidfunde reagiert hat. Doch ordnet die Bundesregierung das ernste Risikopotenzial von Acrylamid und die berechtigten Interessen der Verbraucher offensichtlich wirtschaftlichen Erwägungen unter. Denn die Minimierungsstrategie ist nicht dazu geeignet, schnellstmöglich solche Herstellungsverfahren zu identifizieren und per Verordnung vorzuschreiben, welche die Acrylamidentstehung weitestgehend vermeiden. Die Geheimhaltung der Testergebnisse geschieht mit Sicherheit nicht im Interesse des Gesundheitsschutzes der Bürger.
Konsequenzen dringend erforderlich
Während mit detaillierten Forschungsergebnissen über die genaue Wirkungsweise von Acrylamid im menschlichen Körper erst in einigen Jahren zu rechnen ist, muss das zweifellos bestehende Gesundheitsrisiko so schnell und so weitgehend wie möglich verringert werden. Behörden und Produzenten müssen dazu ihren Beitrag leisten. Konkret bedeutet dies, dass Messergebnisse mit Produktnamen veröffentlicht werden und die niedrigsten Werte als Maßstab für Vorschriften für eine "Gute Herstellungspraxis zur Vermeidung von Acrylamidkontaminationen" gelten. Die Verfahren, die mit den niedrigsten Belastungen innerhalb einer Warengruppe einhergehen, müssen umgehend analysiert werden, damit andere Hersteller ihre Produktionsweise entsprechend verbessern können. Die "Gute Herstellungspraxis" muss ständig mit dem Ziel der weitestgehenden Eliminierung von Acrylamid verbessert werden. Acrylamid ist die Nagelprobe für das Vorsorgeprinzip im Lebensmittelbereich.
Quelle: Wolfschmidt, M.: UGB-Forum (5), S. 225-228, 2003
Foto: DAK/Wigger