Harte Jungs - zarte Mädchen?
Jungs sind oft recht wild, Mädchen dagegen eher über-vorsichtig. Schon früh sind bei Kindern typische Geschlechtsunterschiede zu beobachten, die sich auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirken. Dies sollte in der Gesundheitsförderung berücksichtigt werden.
Die Zweitklässler spielen in der Pause immer "Jungs die Mädchen - Mädchen die Jungs". Dabei sind insbesondere einige Jungen etwas grob. Miriam und Petra wehren sich dann nicht, sondern kommen weinend zur Lehrerin gelaufen und beklagen sich über die Rabauken. Wie würde diese Geschichte wirken, wenn die Mädchen- und Jungennamen vertauscht wären? Natürlich gibt es auch Mädchen, die hart im Nehmen sind, und Jungen, die bei jeder Kleinigkeit zu heulen anfangen. Dennoch: Wenn es um Gesundheit, Krankheit und den Umgang mit dem eigenen Körper geht, sind schon im Kindergarten geschlechtstypische Unterschiede zu beobachten.
Jungs leben riskanter
Neben körperlichen Erkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen sind es vor allem Unfälle und ein gesundheitsriskantes Verhalten, die die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen.Unfälle zählen zu den Hauptursachen für Todesfälle im Kindes- und Jugendalter. Sie sind nach Atemwegserkrankungen der zweithäufigste Grund dafür, weshalb Eltern mit ihrem Kind einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. Besonders oft kommen Unfälle im Straßenverkehr vor. Jungen sind davon drei- bis viermal häufiger betroffen. Sie verletzen sich auch wesentlich öfter als Mädchen. Bei einer Untersuchung der psychologischen Hintergründe zeigen sich zwei Gruppen von verunglückten Kindern. Die einen, bei der die Jungs überwogen, erscheinen extrovertiert, lebhaft, risikobereit, zum Teil auch ablenkbar und erregbar. Bei den anderen mit einem höheren Mädchenanteil standenÄngstlichkeit, innere Unruhe und Empfindlichkeit im Vordergrund. Diese Kinder setzen sich zwar weniger Gefahren aus, können aber gefährliche Situationen schlechter bewältigen.
Heute beeinträchtigen weniger die bekannten Kinderkrankheiten die körperliche Gesundheit von Heranwachsenden. Denn bessere diagnostische Möglichkeiten führen dazu, dass Behinderungen und Krankheiten früher erkannt und behandelt werden können. Dramatisch gestiegen ist dagegen die Zahl der übergewichtigen Kinder. Manche bekommen bereits in der Kindheit "Alterskrankheiten" wie Diabetes. In den letzten Jahren haben außerdem Allergien wie Heuschnupfen, Asthma oder Neurodermitis stark zugenommen. Jungen sind zumindest bis zum Juund labiler als Mädchen. Sie leiden häufiger an Krankheiten und Behinderungen und erhalten öfter Frühförderung. Auch die Sterberate ist für Jungen in allen Altersgruppen höher.
Mehr Beschwerden bei Mädchen in der Pubertät
Bei psychischen und psychosomatischen Beschwerden gibt es ebenfalls deutliche Geschlechtsunterschiede. Während bei Mädchen internalisierende (nach innen gerichtete) Verhaltensweisen überwiegen, beispielsweise Essstörungen, treten bei Jungen mehr externalisierende (nach außen gerichtete) Verhaltensweisen auf wie Aggressivität. Bis zur Pubertät leiden Jungen in größerem Ausmaß an psychischen und psychosomatischen Beeinträchtigungen als Mädchen. Sie werden in Kindergarten und Grundschule öfter als "Problemkinder" erlebt, häufig aufgrund von Hyperaktivität und aggressivem Verhalten. Sie bekommen daher auch in weit höherem Maße Psychopharmaka wie Ritalin verschrieben.In der Pubertät kehrt sich der Trend dann um: Weibliche Jugendliche klagen öfter über Beschwerden und Unwohlsein als männliche Jugendliche, gehen häufiger zum Arzt und bekommen mehr Medikamente verschrieben. Die Liste der Symptome wird dabei von Kopfschmerzen, Nervosität, Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten angeführt. Zudem treten Essstörungen bei Mädchen häufiger auf, allerdings werden diese zunehmend auch bei männlichen Jugendlichen beobachtet.
Große Unterschiede gibt es schließlich im gesundheitsrelevanten Verhalten. Suchtmittel werden zwar mittlerweile von Jungen und Mädchen nahezu gleichhäufig ausprobiert. Je "härter" aber das Konsumverhalten, also je stärker getrunken und geraucht wurde, desto höher ist der Jungenanteil. Dreimal so viele Jungen wie Mädchen sind alkoholabhängig. Verhaltensweisen wie gefährliche Mutproben oder riskantes Fahrverhalten führen bei Jungs zudem häufiger zu Unfällen.
Die geschlechtstypischen Unterschiede lassen sich teilweise durch genetische Faktoren erklären. So sind bestimmte erbliche Erkrankungen an das männliche Y-Chromosom geknüpft. Manche körperliche Beschwerden von pubertierenden Mädchen beruhen auf hormonellen Umstellungen. Entscheidender für die Gesundheit sind im Allgemeinen aber psychologische und soziale Zusammenhänge.So ist die Identitätsfindung für Jungen im Vorschulalter schwieriger als für Mädchen. Sie müssen in dieser Zeit damit fertig werden, dass sie niemals so sein können wie die geliebten Menschen, mit denen sie meist den größten Teil des Tages verbringen: die Mutter und andere Frauen. Auf der Suche nach einer klaren männlichen Orientierung grenzen sich Jungen von allem ab, was "weiblich" ist, - und damit manchmal auch von gesundheitsbewusstem Verhalten.
Schönheitsideal steht Gesundheit entgegen
Für Mädchen ist die Pubertät ein entscheidender Einschnitt. Manche bekommen schon mit neun Jahren ihre erste Blutung. Diese besondere Erfahrung ist eigentlich eine Chance, seinen Körper neu kennen zu lernen. Stattdessen wird sie heute vielfach als Unreinheit und Problem angesehen. Auch Schönheitsideale sind nach wie vor ein Hindernis auf dem Weg zu Gesundheit und Wohlbefinden. Gerade hier gibt es geschlechtstypische Unterschiede im Körperbild Jugendlicher. So sind weibliche Jugendliche unzufriedener mit ihrem körperlichen Erscheinungsbild und aufmerksamer für innere Vorgänge. Eine aktuelle Untersuchung zeigt, dass die Unzufriedenheit der Mädchen im Laufe der Jahre zunimmt, die der Jungen dagegen abnimmt. Das hängt mit biologischen Aspekten zusammen. Denn die natürliche Gewichtszunahme und die körperlichen Rundungen führen bei Mädchen dazu, dass der Körper weniger dem weiblichen Schlankheitsideal entspricht. Bei Jungen ist es umgekehrt, weil der pubertäre Muskelzuwachs sie "männlicher" aussehen lässt.
Manches, was uns Erwachsenen als schädlich oder unvernünftig vorkommt - ungesund eben - hat aus Sicht der Mädchen und Jungen durchaus einen Sinn. Mit gesundheitsriskantem Verhalten erleben sie die Möglichkeiten und Grenzen ihres Körpers, setzen sich mit gesellschaftlichen Anforderungen auseinander und stellen sich selbst als Mädchen und Jungen dar. Gesundheitsförderung bedeutet daher nicht einfach, Kindern und Jugendlichen "richtiges" Verhalten beizubringen. Sie muss stattdessen ihre Bedürfnisse und Sichtweisen ernst nehmen und auch die Themen aufgreifen, die hinter problematischem Verhalten stehen.
Kleine Mädchen und Jungen wissen meist recht gut, was ihr Körper braucht. Allerdings gibt es viele gesellschaftliche Einflüsse, die sich eher negativ auf diese Fähigkeit auswirken:
- Süßigkeiten, Knabberzeug und Fertiggerichte, die so voller Zucker, Salz und Zusatzstoffe sind, dass sie die Bezeichnung Lebensmittel" nicht mehr verdienen;
- Fernseher oder Computerspiele, die Kinder davon abhalten, sich zu bewegen;
- die schnelle Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten mit Psychopharmaka;
- Idealvorstellungen von Körper, Schönheit und Gesundheit, die den normalen körperlichen Gegebenheiten meist nicht entsprechen.
Es gibt daher viele Gründe, möglichst früh mit geschlechtsbewusster Gesundheitsförderung zu beginnen. Auch wenn es "den" Jungen und "das" Mädchen nicht gibt.
Körperwahrnehmungstärken
Kinder fangen schon früh an, sich als Mädchen bzw. Jungen darzustellen. Das kann Spaß machen, aber auch zu Selbstabwertung führen, wenn der eigene Körper nicht den Idealen entspricht. Es gibt nach wie vor zu viele Mädchen, die sich mit Diäten herumschlagen, weil sie sich zu dick finden. Viele Jungen wiederum überschätzen ihre körperlichen Möglichkeiten, um dem Bild des starken Mannes zu genügen. Hilfreich sind stattdessen positive Körpererfahrungen, bei denen Mädchen und Jungen erleben, dass ihr Körper ganz in Ordnung ist.
Was ist ein Weichei?
Sexualpädagogik muss im Kindergarten beginnen, denn Liebe und Sexualität sind für Mädchen und Jungen in diesem Alter außerordentlich spannend. Wenn die Themen Liebe und Sexualität früh aufgegriffen werden, ist die Chance groß, dass Mädchen und Jungen ein positives Verhältnis dazu entwickeln.
Indianerherz kennt keinen Schmerz
Der Satz "Ein Junge weint nicht" fällt selbst heute noch gelegentlich. Viele Jungen beißen die Zähne zusammen und lernen nicht, Schmerz als wichtiges Signal ihres Körpers wahrzunehmen. Mädchen erfahren einen humaneren und bewussteren Umgang mit ihrem Körper. Das kann allerdings auch zum Nachteil werden, wenn sie deswegen als wenig belastbar angesehen werden.
Weder übermütig noch überängstlich
Mädchen sind eher übervorsichtig und werden zu wenig dazu ermutigt, ihre Grenzen zu erproben. Jungen begeben sich häufiger in gefährliche Situationen, weil sie kein Feigling sein wollen. Für beide Geschlechter ist es wichtig zu lernen, dass Angst ein wichtiges Signal ist, das ernst genommen werden, aber nicht gänzlich von spannenden Aktivitäten abhalten sollte.
Toben und Kämpfen machen Spaß!
Manche Mädchen trauen sich überhaupt nicht, ihre körperlichen Möglichkeiten einzusetzen. Jungen wiederum gehen bei Rangeleien manchmal sehr rücksichtslos mit sich und anderen um. Besonders Jungen, die viel in Auseinandersetzungen verwickelt sind, haben oft eine schlechte Körperwahrnehmung und können die Folgen von Verletzungen weder bei sich selbst noch bei anderen einschätzen. Jungen wie Mädchen tut es gut, in wilden Spielen ihre Kräfte zu erproben. Klare Regeln, Entspannung und ein sorgsamer Umgang mit Verletzungen gehören selbstverständlich dazu.
Gesundheitsförderung im Kindesalter muss in erster Linie das Selbstwertgefühl stärken und die Körperwahrnehmung fördern. Dabei ist es wichtig, auf die Bedürfnisse von Mädchen und Jungen einzugehen - aber auch klare Grenzen zu setzen. Nicht zuletzt sollten wir selbst als erwachsene Männer und Frauen gut mit unserem Körper umgehen und etwas für unser Wohlbefinden tun. Dann erleben Jungen und Mädchen, wie das funktioniert. Wenn wir uns wohl in unserer Haut fühlen, können wir auch besser mit den Herausforderungen und Konflikten umgehen, die der Alltag mit Kindern mit sich bringt.
Quelle: Rohrmann, T.: UGB-Forum 2/03, S. 62-65