Nährwertkennzeichnung: Mogelpackung
Verbraucher haben es nicht leicht, gesunde Lebensmittel auf den ersten Blick zu erkennen. Einfache Nährwertinformationen sollen ihnen beim Einkauf helfen. Doch an der freiwilligen Kennzeichnung der Hersteller üben Verbraucherverbände heftige Kritik. Sie fordern ein klares Zeichen, wie die in Großbritannien bewährte Ampel.
Ein Becher Fruchtjoghurt liefert 39 Prozent der täglichen Zuckerration und ein Stück Schokolade enthält fünf Prozent der Tagesportion Fett. So ist es zumindest seit Sommer 2007 auf vielen Produkten zu lesen. Diese Angaben hat der Verband der europäischen Lebensmittelindustrie (CIAA) auf den Weg gebracht. Der Clou der freiwilligen Kennzeichnung ist, dass sich die Angaben auf die Empfehlungen für die tägliche Zufuhr beziehen. Angegeben ist nicht nur die Nährstoffmenge pro Portion. Zusätzlich zeigt ein farblich abgesetztes Feld auf einen Blick, welchen Anteil der Nährstoff an der entsprechenden Tageszufuhr besitzt. Was zunächst ganz vernünftig klingt, hat aber mehrere Haken.
Aufklärung oder Augenwischerei?
Basis für diese Angaben sind die so genannten Guide line Daily Amounts (GDA) des Industrieverbandes CIAA. Diese Werte sind zwar aus wissenschaftlich anerkannten Empfehlungen abgeleitet, beziehen sich allerdings auf den Tagesbedarf einer normalgewichtigen Frau mit einem Energieverbrauch von 2000 Kilokalorien am Tag.
Tatsächlich weichen die Werte für Männer, Kinder und Senioren erheblich davon ab. Außerdem unterscheidet sich der Bedarf von Bewegungsmuffeln und Sportskanonen drastisch. Dass die Angaben eigentlich nur für normalgewichtige Frauen gelten, ist in der Regel nicht erkennbar. Die meist auf der Vorderseite angebrachten Nährwertinformationen für Fett, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz sollen als Obergrenze verstanden werden, für Kohlenhydrate und Ballaststoffe hingegen als Untergrenze. Somit bleibt für den Käufer unklar, ob eigentlich ein geringerer oder höherer Wert erstrebenswert ist.
Die Bezugsgrößen stoßen bei Experten auf Unverständnis – insbesondere der Wert für Zucker. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt nicht mehr als 10 Prozent der Energiezufuhr als zugesetzten Zucker. Bei einem Bedarf von 2000 kcal am Tag entspricht das 50 Gramm. Der CIAA addiert natürliche Zucker aus Obst, Gemüse und Milchprodukten einfach hinzu, und führt 90 Gramm als zulässige Tageszufuhr an.
„Mit den scheinbar vereinfachten Nährwertangaben auf ihren Produkten betreiben Hersteller zurzeit eine faustdicke Augenwischerei“, lautet das Fazit von Klaus Müller, Vorstand der Verbraucherzentrale NRW. Die Verbraucherzentrale nahm die Nährwertangaben von Frühstückscerealien, die sich speziell an Kinder richten, genauer unter die Lupe. Fast alle Produkte enthielten rund zehn Gramm Zucker pro Portion. Für Erwachsene ergibt das zwar nur elf Prozent der Tageszufuhr. Doch kleine Kinder decken mit der Zuckermenge bereits ein Drittel der Tagesdosis ab. Zudem werfen Verbraucherschützer den Herstellern vor, die Portionsgrößen unrealistisch zu wählen und so die Zuckerbilanz schön zu rechnen. Denn wer isst wirklich nur einen Minischokokuss aus einer Packung mit 32 Stück? Weil die Hersteller derzeit die Portionsgrößen frei wählen dürfen, fehlt die direkte Vergleichbarkeit. Enthalten beispielsweise zwei Produkte bezogen auf 100 Gramm gleich viel Zucker, fällt die prozentuale Tagesangabe für kleinere Portionen natürlich günstiger aus.
Ampel statt Prozente
Verbraucherorganisationen fordern verständliche Nährwertinformationen. Im Gegensatz zu den Prozentangaben der Industrie favorisieren sie die in Großbritannien praktizierte Ampellösung. Als freiwillige Kennzeichnung erhalten dort Lebensmittel für ihren Gehalt an Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz rote, gelbe oder grüne Punkte. Die Farben der Ampel signalisieren: „Nur in geringen Mengen verzehren“ (rot), „Es ist ok, das häufiger zu essen“ (gelb) und „Eine gesunde Wahl“ (grün). Die Grenzen zwischen den Farben basieren auf wissenschaftlichen Empfehlungen. So trägt ein Produkt beispielsweise einen grünen Punkt, wenn es weniger als fünf Gramm Zucker pro 100 Gramm enthält, bei mehr als der dreifachen Menge einen roten. Verkaufszahlen zeigen, dass Konsumenten die Ampel nutzen, um mehr gesunde Produkte zu kaufen. Doch sie meiden nicht kategorisch Produkte mit roten Punkten. Kuchen oder Desserts werden trotzdem gekauft – nur eben weniger. Zugleich bemühen sich Unternehmen mit weniger Zucker, Fett oder Salz auszukommen, um mehr gelbe und grüne Punkte zu erhalten.
Verständliche Informationen nötig
In Deutschland und der EU ist eine Ampelkennzeichnung derzeit nicht in Sicht. Sowohl ein Entwurf der EU-Kommission als auch der Vorschlag des deutschen Verbraucherministers Horst Seehofer unterstützen die Industrievariante – allerdings ohne Angaben für Proteine, Ballaststoffe und Kohlenhydrate. Während der noch in Diskussion befindliche Entwurf der EU die Kennzeichnung verpflichtend für alle Produkte vorsieht, setzt Seehofer auf die Freiwilligkeit der Industrie. Der Minister sieht in der Ampellösung eine zu starke Vereinfachung und die Gefahr der Verdummung der Verbraucher. Die Industrie wettert, das Farbsystem bewerte Lebensmittel pauschal und eine rote Ampel signalisiere zudem ein Verbot. Der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) bemängelt die Einteilung in gute und schlechte Lebensmittel. Das verwirre die Verbraucher, weil es schließlich nicht auf die Bewertung einzelner Lebensmittel ankomme, sondern auf eine ausgewogene Ernährung. Eine vom Bundesministerium gerade in Auftrag gegebene – aber bislang nicht offiziell veröffentlichte – Studie kommt zu einem anderen Ergebnis: Danach befürworten die Verbraucher mehrheitlich eine klare farbliche Kennzeichnung.
Die Auswahl gesunder Lebensmittel ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines gesunden Lebensstils. Für Kinder und Personen mit geringer Bildung oder mangelnden Sprachkenntnissen wäre eine einfache und eindeutige Kennzeichnung eine wichtige Hilfe. Gerade diese gelten als Risikogruppen für Fehlernährung. Fragwürdige Bezugsgrößen und verwirrende Prozentangaben, wie sie die derzeitigen Modelle der Lebensmittelindustrie und des Verbraucherministers vorsehen, verschleiern den wahren Nährwert eines Lebensmittels eher. Glaubwürdige Verbraucheraufklärung sieht anders aus.