Probiotika: Wirkung fraglich
Seit 1995 produzieren Lebensmittelkonzerne so genannte Probiotika. Die Joghurts, in denen es vor guten Keimen nur so wimmelt, sollen helfen, das körpereigene Immunsystem zu stärken, Verdauungsbeschwerden zu lindern oder sogar Neurodermitis vorzubeugen. Doch halten sie wirklich, was sie versprechen?
Mehr als ein Dutzend verschiedene Bakterienstämme kommen in probiotischen Lebensmitteln zum Einsatz. Inzwischen gibt es nicht nur Joghurts, sondern auch Quark, Käse und Wurst, in denen es vor guten Keimen nur so wimmelt. Die Bakterien werden so gezüchtet, dass sie die aggressive Magensäure möglichst zahlreich überstehen und unbeschadet im Darm eintreffen. Je nach Bakterienstamm werden etwa 60 bis 90 Prozent vorher im Verdauungstrakt von Säure und Enzymen zerstört. Erfahrungswerte zeigen, dass sich mindestens eine Million Mikroben in einem Gramm Joghurt tummeln müssen, damit genug gute Keime ankommen.
Bald auch probiotische Pralinen?
Forscher der Universität Bonn und des Technologie-Transfer-Zentrums Bremen arbeiten daran, die Winzlinge mit einem Schutzmantel zu umhüllen. Dank einer Kapsel, die sich erst im Darm öffnet, sollen sie den Verdauungstrakt wohl behütet passieren. Die Minikugeln sind mit rund 30 Mikrometern so klein, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Künftig könnten die Bakterienkapseln zum Beispiel in Schokolade gemischt und zu probiotischen Pralinen verarbeitet werden.
Heute wird nicht nur Joghurt, sondern auch Säuglingsnahrung, Speiseeis und sogar Wurst mit den Mikroben aufgepeppt. "Im Wesentlichen haben sich aber nur die probiotischen Milchprodukte auf breiterer Basis auf dem Markt behauptet", stellt Steven Brechelmacher von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) fest. 70 Prozent aller Haushalte haben 2005 probiotische Milchprodukte probiert. Die Hersteller erzielten einen Rekordumsatz von 388 Millionen Euro.
Probiotika: Wirknachweise auf wackeligen Beinen
Probiotische Trinkjoghurts werden meist als kleine, bauchige Fläschchen in 4er, 6er oder 8er Packungen angeboten. Inzwischen gibt es die Drinks auch schon in Bioqualität. Die Konsumforscher vermuten, dass die intensive Werbung die kleinen Fläschchen so populär gemacht hat. Bei all der Werbung ist jedoch Skepsis angebracht: Helfen die mit Bazillen beladenen Drinks und Joghurts wirklich der Gesundheit?
Die Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel in Kiel untersucht und prüft - zum Teil im Auftrag der Hersteller - die Effekte der probiotischen Produkte auf den Menschen. "Ich kann wirklich nichts Schlechtes sagen", meint Dr. Michael de Vrese, Mitarbeiter des Kieler Instituts, fast entschuldigend. "Probiotika schaden auf keinen Fall." Die Produkte müssen einen gesundheitsfördernden Effekt in nur einer klinischen Studie vorweisen, damit die Hersteller sie als probiotisch bezeichnen dürfen. Zwischen dreißig und mehreren Hundert Menschen testen den Bakterien-Cocktail, bevor er ins Warenregal darf. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erkennt in ihrem Ernährungsbericht 2004 einige gesundheitsfördernde Wirkungen als erwiesen an. Ist die natürliche Darmflora durch eine Antibiotika-Behandlung geschwächt, erholt sie sich beispielsweise rascher wieder, wenn Probiotika verzehrt werden. Auch bei Durchfall, Völlegefühl oder Verstopfung können die Bakterien helfen. "Solche Unpässlichkeiten treten bei regelmäßigem Verzehr von probiotischen Kulturen seltener auf", berichtet de Vrese. Die Mikroben senken die Menge schädlicher Abbauprodukte im Darm, die im Übermaß zu Verdauungsbeschwerden führen und Entzündungen bis hin zu Darmkrebs begünstigen. Ob Probiotika tatsächlich vor Krebs schützen, wird aber noch erforscht.
Probiotika sind möglicherweise sinnvoll bei:
- bestimmten chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen
- verschiedenen Durchfallerkrankungen
- chronischer Verstopfung
- Vorbeugung vor Allergien und Infektionen Frühgeborener
- Vorbeugung und Linderung von Neurodermitis
- Infekten von Hals, Nase, Ohren und anderen leichten Infektionen
Fest steht, dass die probiotischen Mikroben sich nicht dauerhaft im Darm ansiedeln. Sie verweilen dort nur einige Stunden, unmittelbar nachdem das bakterienbeladene Lebensmittel verzehrt wurde. Doch auch während des kurzen Zwischenstopps im Darm greifen die Bakterien in den Stoffwechsel ein. Sie hemmen das Wachstum von schädlichen Keimen, in dem sie ihnen den Platz und die Nahrung wegnehmen. "Einige probiotische Kulturen stärken sogar das Immunsystem", hebt de Vrese hervor. Das fand das Kieler Forschungsinstitut in der bislang größten Untersuchung mit Probiotika heraus: Zwei Winter lang mussten 500 Probanden die Winzlinge verspeisen, während weiteren 500 die Mikroben vorenthalten wurden. Danach werteten die Wissenschaftler aus, wie oft die Teilnehmer erkrankt waren. "Zwar erkälteten sich die Probiotika-Konsumenten genauso oft wie die Vergleichspersonen, aber die Erkältung ging im Schnitt zwei Tage schneller vorüber und war weniger intensiv", fasst de Vrese das Ergebnis zusammen.
Mittlerweile werden die Probiotika sogar gegen Krankheiten erprobt. Einige Kulturen lassen den quälenden Juckreiz einer Neurodermitis bei Kindern abklingen, wie finnische Forscher berichten. Bereits in der Schwangerschaft helfen sie, eine Neurodermitis beim Kind zu verhindern. Das Risiko für die Erkrankung sinkt in gefährdeten Familien um 50 Prozent, wenn werdende Mütter regelmäßig die guten Keime essen.
Probiotika: Nutzen nur bei täglichem Konsum
Keine Risiken, keine Nebenwirkungen und nur erwünschte Wirkungen - damit wären die Probiotika über jedes Medikament erhaben. Doch gibt es den einen oder anderen Haken: "Probiotische Bakterien helfen nicht allen Menschen gleichermaßen", erklärt de Vrese. Da jeder Mensch eine einzigartige Darmflora hat, kann es sein, dass bei manchen Menschen ein bestimmtes Probiotikum überhaupt nicht anschlägt. Der Ernährungsexperte Rolf Großklaus vom Bundesinstitut für Risikobewertung geht davon aus, dass "90 Prozent der Bevölkerung keine speziellen Kulturen braucht."
Jedes Probiotikum hat zudem eine spezifische Wirkung. Eine Kultur wird nämlich nur auf bestimmte Effekte getestet und kann im Zweifel auch nur diese Wirkung erzielen. Bei einem Markenprodukt wurde beispielsweise nur gezeigt, dass es gegen Verstopfung helfen kann. Alles andere wurde nicht geprüft. Ob dieser Joghurt auch die Abwehrkräfte beeinflusst, ist deshalb fraglich.
Probiotika - kein Wundermittel
Überdies müssen Probiotika regelmäßig gegessen werden, damit sie überhaupt wirken können. Doch laut GfK verzehren die meisten Käufer probiotische Produkte im Schnitt nicht mehr als zehn Mal im Jahr. "Das ist schlicht zu wenig, um überhaupt irgendetwas für die Gesundheit zu erreichen", kommentiert de Vrese. Die Mehrzahl der Verbraucher habe nicht verstanden, dass Probiotika täglich und wenigstens mehrere Tage hintereinander verzehrt werden müssten, um nachweislich wirken zu können, bestätigt Konsumforscher Brechelmacher. Wer meint, mit den teuren Produkten Ernährungsfehler und einen ungesunden Lebenswandel wett machen zu können, der irrt. Denn ein Wundermittel für Fitness und Gesundheit sind Probiotika sicher nicht.
Quelle: UGB-FORUM 2/07, S. 100-101