Essbeziehung und Esserziehung: Vom Sollen zum Wollen
Erwachsene haben Erwartungen: Kinder sollen erst flüssig, dann breiig, zuletzt stückig, stets planmäßig, möglichst sauber, immer in der vorgesehenen Menge, besonders gesund und vollwertig essen. Aber gut essende Kinder fallen nicht einfach so von den Bäumen. Denn Kinder haben Bedürfnisse, sie wollen in Beziehung, mit Selbstvertrauen, mit Verlässlichkeit und mit Aufmerksamkeit essen und essen lernen.
Am Tisch sitzen sich das Sollen und das Wollen gegenüber. Nicht selten behindert das Sollen die Wahrnehmung des Wollens. Je größer die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Erwachsenen und den Bedürfnissen der Kinder ist, umso herausfordernder gestaltet sich die Situation am Esstisch und somit die Entwicklung eines selbstbestimmten, gesundheitsförderlichen und genussvollen Essverhaltens. Damit die Erwartungen der Erwachsenen sich den Bedürfnissen der Kinder annähern können, braucht es das Wissen über die Entwicklung des kindlichen Essverhaltens. Auch die Bedeutung einer Mahlzeit sowie die Einflussfaktoren auf das kindliche, intuitive Essverhalten zu kennen, ist hilfreich.
Gemeinsame Mahlzeiten machen stark
Die Ernährung und das Essverhalten durchlaufen von klein auf bis zum Erwachsenenalter verschiedene Phasen. In diesen lernen Kinder allmählich immer selbstständiger zu essen. Genauer gesagt lernen sie, Mahlzeiten einzunehmen, denn gegessen wird im Kontext einer Mahlzeit, gemeinsam oder allein. Eine Familienmahlzeit ist immer auch Beziehungszeit, im besten Fall eine positive Anregungszeit. Nicht selten werden Mahlzeiten in Familien aber als Stresszeiten empfunden. Die moderne Snackkultur ermöglicht es, dem Stress am Tisch aus dem Weg zu gehen – zumindest vorerst. Gemeinsame Mahlzeiten von Anfang an machen Familien dagegen stark.
Wenn wir Mahlzeit hören, denken wir zunächst daran, dass unser Bedürfnis nach Sättigung befriedigt wird. Aber eine Mahlzeit kann deutlich mehr. Sie stiftet auch Gemeinschaft und bietet gute Möglichkeiten, Regeln und Normen zu lernen. Hier werden Beziehungen gelebt, denn gemeinsam zu essen ist Kommunikation. Auf diese Weise hat eine Mahlzeit auch eine soziale sowie eine psychische Funktion im Sinne von Mahl-Zeit-Nehmen. So werden die Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe, Wachstum und Wertschätzung befriedigt.
Kalorisch satt – emotional hungrig
Eine Mahlzeit ist außerdem nicht nur in KiTa und Schule, sondern auch zu Hause automatisch eine pädagogische Bildungszeit. Die soziale, psychische und pädagogische Funktion einer Mahlzeit sättigt den emotionalen Hunger, die physiologische Funktion den Hunger nach Energie und Nährstoffen. Der Mensch ist dann zufrieden mit einer Mahlzeit, wenn beide Hungeranteile gestillt sind. Mobiles Essen und häufig auch das Essen von Fast-Food führen auf der physiologischen Seite oft zu einer Überernährung und seelisch zu einer Unterernährung – kalorisch satt, emotional hungrig. Bei einer Mahlzeit sollten im Idealfall aber die Tellerthemen (physiologische Sättigung) und die Tischthemen (emotionale Sättigung) gleich relevant sein.
Jugendliche essen sehr gerne allein in ihrem Zimmer oder die Pizza vor dem PC. Danach sind sie kalorisch satt, fühlen sich aber noch hungrig und essen weiter. Sie versuchen so, ihren emotionalen Hunger mit Energie zu sättigen. Die Corona-Pandemie hat uns eindrucksvoll die Folgen gezeigt, wenn der emotionale Hunger bei einer Mahlzeit nicht gesättigt wird. Nicht nur Kinder haben in dieser Zeit an Gewicht zugelegt.
Geschmacksprägung beginnt im Mutterleib
Eine Essbeziehung entwickelt sich aber schon viel früher. Was die Mutter isst, gelangt auch in das Fruchtwasser. Über das Trinken dieser Flüssigkeit lernt der Fötus bereits die Geschmacksstoffe der Familienernährung kennen. So beginnt die Geschmacksprägung bereits im Mutterleib. Nach der Geburt bestimmt zunächst die Muttermilch den Geschmack, denn schon 2-3 Stunden nach dem Essen der Mutter befinden sich die Geschmacksstoffe des Essens in der Milch. Kinder kommen mit 10.000 Geschmacksknospen auf der Zunge und im Mundraum auf die Welt und sind somit wahre Geschmackskünstler. Eine ausgewogene, abwechslungsreiche, bunte und vollwertige Ernährung während Schwangerschaft und Stillzeit, aber auch die Zeit der Beikost haben somit enormen Einfluss auf die Geschmacksprägung des Kindes.
SEMINARTIPP
Eltern und Pädagog:innen können entscheidend dazu beitragen, dass Kinder eine gute Beziehung zum Essen aufbauen. Dazu müssen sie die Sprache und die Bedürfnisse der Kinder kennen und bereit sein, ihre eigene Essbiografie zu reflektieren. Die Weiterbildungen der UGB-Akademie schaffen dafür die Grundlagen.
Andererseits bestimmen biologische Schutzprogramme, was Kinder und auch Erwachsene mögen. Die Programme haben sich im Laufe der Evolution ausgebildet, um den Körper vor Gefahren zu schützen und dafür zu sorgen, dass der Organismus mit den notwendigen Nährstoffen versorgt wird. Das heißt giftige, bittere Pflanzen werden abgelehnt, süße Früchte und energieliefernde fetthaltige Lebensmittel bevorzugt. Heute, im 21. Jahrhundert, sind diese genetisch verankerten Programme nicht mehr notwendig, denn wir haben sichere Lebensmittel, die uns gut versorgen. Durch die ständige Verfügbarkeit von Lebensmitteln widersprechen sie sogar der Entwicklung eines gesundheitsförderlichen Essverhaltens. Die Schutzprogramme zeigen sich bei Kindern sehr deutlich und haben einen enormen Einfluss auf ihre Lebensmittelauswahl und ihr Essverhalten, da Kinder intuitive Esser sind.
Essen in guter und angenehmer Atmosphäre
Die biologischen Schutzprogramme bedingen, dass wir Menschen eine Vorliebe für süße, salzige und fettreiche Lebensmittel haben, aber bittere und saure ablehnen. Da passt ein noch so dringend empfohlenes und wunderschön dekoriertes Brokkoliröschen überhaupt nicht hinein. Der Brokkoli gibt dem Kind nicht die Information, von ihm lange satt und versorgt zu werden. Das bedeutet, dass der zurückhaltende Blick der Kinder auf das Gemüse kein Affront gegen den Willen der Eltern ist, sondern eine pure Überlebensstrategie. Wenn Erwachsene also wollen, dass Kinder Gemüse essen sollen, beziehungsweise, wenn Kinder das essen wollen, was sie sollen, dann ist es ratsam, das gegarte Gemüse immer mit konzentrierter Energie anzubieten wie Vollkornnudeln mit einer Linsen-Gemüsebolognese oder der klassische Eintopf mit Würstchen. Dann bekommen die Kinder das richtige Signal: „Hier werde ich satt.“
Vor allem Lebensmittel und Gerichte, die aufgrund der biologischen Programme eher ein negatives Image haben, sollten besser in guter und angenehmer Atmosphäre angeboten werden – also ohne Druck, möglichst selbstverständlich, in Beziehung, mit Begeisterung. Kinder sind mutiger bei energiearmen und bitteren Lebensmitteln, wenn sie mit vertrauten, geliebten Komponenten kombiniert werden, möglicherweise auch mit süßen und fettreichen, sattmachenden Ergänzungen.
Essen vom gemeinsamen Teller
Bis die Kinder ungefähr 1½ Jahre alt sind, fühlen sie sich noch nicht in der Lage, Lebensmittel nach ihrer Sicherheit und dem Überlebenswert selbst zu beurteilen. Daher essen sie am liebsten das, was ihre Eltern auch essen und noch lieber von einem gemeinsamen Teller. Richtig gut wird es dann, wenn die Kinder auf dem Schoß ihrer Eltern sitzen dürfen. Nicht selten nehmen die Kinder auch ein wenig Essen, etwa ein Stückchen Gemüse von dem Teller und bieten es dem Schoßgeber an. Das ist ein Zeichen von tiefem Vertrauen. Das Kind überprüft mit dem Anbieten die Sicherheit und den Überlebenswert dieses Stückchens Gemüse. Eltern sollten das Angebot des Kindes annehmen. Nur so kann es lernen, zu vertrauen.Nach und nach entwickelt sich ein Autonomiebestreben. Das Kind versucht, die Lebensmittel selbst nach ihrem Überlebenswert und ihrer Sicherheit einzustufen. Das gelingt an einem Tag sicherer und mit viel Mut und am nächsten Tag zurückhaltender. Was gestern noch superlecker war, kann heute schon nicht mehr gelten. Bis ins Alter von etwa sechs Jahren lieben Kinder Übersicht auf dem Teller. Sie möchten klar erkennen können, was sich in den Schüsseln befindet, bevor sie sich nehmen. Und nicht selten essen sie die verschiedenen Komponenten nacheinander, also getrennt und so pur wie möglich. Nur so können sie herausfinden, ob diese Lebensmittel sicher sind. Aus der Perspektive eines Erwachsenen erscheint das eher unattraktiv, wenn Kinder die Nudeln pur essen, um im Anschluss die Soße mit Hingabe zu löffeln. Dieses Verhalten sollte respektiert und nicht bewertet werden.
Kinder mit dem Essen flirten lassen
Damit Kinder positive Erfahrungen mit dem Essen machen können, brauchen sie einen „Lebens-Ess-Raum“, der ihnen ermöglicht, selbstbestimmte Erfahrungen zu machen. Kinder lernen über die Sinne, nicht über den Verstand. Und so ist es wichtig, diese Erkundungen auch am Esstisch zu ermöglichen. Hier geht es nicht um das Spielen mit Lebensmitteln. Kinder brauchen sehr viele Kontakte mit ein und demselben Lebensmittel (mere-exposure-effect), um eine positive Beziehung aufzubauen. Diese Kontakte sind keine Geschmackskontakte, sondern Sicht-, Hör-, Fühl- und Riechkontakte – erst zum Schluss kommt der Kontakt mit dem Geschmack. Man gibt dem Kind so die Möglichkeit, mit den Lebensmitteln zu flirten. Ein Flirt ist ganz unverbindlich und geht nur über den Blick. Ob aus einem Flirt eine Verabredung, ein Kennenlernen, manchmal eine lebenslange Liebesbeziehung wird, das weiß man noch nicht. Nicht selten werden Kinder gedrängt, vor dem Flirten zu küssen, das ist übergriffig. Kein Kind muss probieren, aber jedes Kind darf sich mit den Lebensmitteln und dem Essen mit allen Sinnen ausprobieren.
Im Jugend- und Erwachsenenalter ist das anders. Dort gilt: Wir mögen die Dinge, weil wir sie so oft gegessen haben. Diese anfängliche Motivation, etwas zu essen, was noch nicht richtig gut schmeckt, fehlt kleinen Kindern. Aber durch die Begleitung von freundlichen Erwachsenen, die die Kinder einladen, ermutigen und inspirieren, können Kinder positive und praktische Erfahrungen machen und sind so motiviert, neues zu entdecken.
Buchtipp
Das systemische Konzept in der Ernährungsberatung. Edith Gätjen, 29,95 €
Bild © Susanne Dinkel aus „Vegane Kinderernährung“, Verlag Eugen Ulmer
Stichworte: Esserziehung, Kinderernährung, Familienessen, Essbeziehung, systemische Essberatung, Familienmahlzeiten, Essverhalten, Eltern-Kind-Beziehung, emotionaler Hunger, Geschmacksvorlieben, Muttermilch, Beikost
Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 3/2023
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