Nachhaltig leben im Ökodorf

Viele wünschen sich mehr Nachhaltigkeit und ökologisches Bewusstsein im Alltag. Die Menschen im Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt zeigen, dass sich nachhaltige Lebensstile verwirklichen lassen. Eva Stützel, Mitbewohnerin und Beraterin im Ökodorf, schildert im Interview das Leben in dem ganzheitlichen Gemeinschaftsprojekt.

Was zeichnet ein Ökodorf aus? Was unterscheidet es von einem „normalen“ Dorf?

Ein Ökodorf definieren wir als eine Siedlung, in der die Menschen selbstbestimmt ihr Umfeld gestalten. Dabei beziehen wir bewusst alle vier Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, Soziales, Ökonomie und Kultur/Weltsicht mit ein, um regenerativ zu wirken. Derzeit leben etwa 105 Erwachsene und 40 Kinder und Jugendliche im Ökodorf.

Was bedeutet das konkret? Welche Ziele stehen dahinter?

Bei uns im Ökodorf Sieben Linden gehört zum Beispiel zur Dimension Ökologie, dass wir seit 2001 ausschließlich Strohballenhäuser bauen, im Dorf nur Komposttoiletten haben und uns ausschließlich biologisch ernähren. Das Obst und Gemüse kommt zu 70 Prozent aus unserem eigenen Anbau. Unseren Strom liefern zu mehr als zwei Drittel unsere eigenen Photovoltaikanlagen. Wir heizen mit Holz aus dem eigenen Wald und engagieren uns parallel zur Brennholzgewinnung für ökologischen Waldumbau – von Kiefernmonokultur zu vielfältigem Mischwald. Wir legen Hecken und andere Biotope an. Dazu kommt eine eigene Pflanzenkläranlage und etwa zwei Hektar Gemüsegarten, der nach internen, strengen ökologischen Standards arbeitet. Unser soziales Miteinander ist uns sehr wichtig. Wir nehmen uns immer wieder Zeit dafür, unsere Gemeinschaftskultur zu pflegen und weiterzuentwickeln. Dazu gehören dreimal im Jahr mehrtägige Intensivzeiten mit externer Supervision und viele Angebote für die Gemeinschaft wie Yoga, Meditation, Tanzen oder Feste. Wir unterhalten einen eigenen Waldkindergarten und haben es bis jetzt fast immer geschafft, pflegebedürftig gewordene Mitbewohner hier zu versorgen. Unser geistig behinderter Mitbewohner ist voll in die Gemeinschaft integriert.

Und wie sieht die ökonomische Seite aus?

Im Bereich Ökonomie ist wohl das wichtigste der gemeinsame Grund- und Hausbesitz durch unsere Genossenschaften, in denen alle festen Bewohner Mitglied sind. Für die Genossenschaften ist eine gewisse Höhe an Pflichtanteilen festgelegt. Aber wenn jemand sie nicht leisten kann, dann gibt es gegenseitige Unterstützung durch Solidaranteile oder zinsgünstige Darlehen. Wir haben eine gemeinsame Haushaltskasse, mit der wir unsere Lebensmitteleinkäufe organisieren. Die Kinder werden dabei von der ganzen Gemeinschaft mitgetragen. Wir haben ein privat organisiertes Carsharing, etwa elf Autos können von allen genutzt werden. Ein zukunftsfähiger Lebensstil heißt für uns nicht nur, dass wir anders handeln, sondern insbesondere, dass wir eine innere Haltung der Verbundenheit mit allem Lebendigen entwickeln – und aus dieser inneren Grundhaltung heraus handeln. Das schafft die Basis für unser Miteinander und unser Engagement. Wir entwickeln mehr und mehr unsere eigenen Rituale und Feste, in denen wir diese Verbundenheit leben.

Seit wann gibt es das Ökodorf? Aus welchem Anlass wurde es gegründet?

Die Initiative zum Ökodorf Sieben Linden entstand 1989 von einem Einzelnen, der damals ein selbstversorgtes ökologisches Dorf gründen wollte. Seitdem hat sich das Projekt erheblich gewandelt. Wir haben ein ganzheitlicheres Verständnis entwickelt als der Ursprungsansatz. Seit 1997 sind wir nun an dem Ort, an dem Sieben Linden entsteht.

Was motiviert Menschen, im Ökodorf zu leben?

Uns motiviert die Sehnsucht, in dieser Zeit des Klimawandels aufzuzeigen, dass ein nachhaltiger Lebensstil kein Verzicht sein muss, sondern mit viel Lebensqualität einhergehen kann. Wir wollen lieber Teil der Lösung sein als Teil des Problems. Außerdem verbindet uns die Sehnsucht danach, intensiver miteinander zu leben als das im „normalen“ Umfeld so möglich ist.

Wie läuft das Miteinander im Dorf ab?

Ein wesentlicher Aspekt unseres Alltags ist die Gemeinschaftsküche. In unseren Essräumen gibt es durchgehend die Möglichkeit zu gemeinsamen Mahlzeiten. Jeder von uns hat stets die Wahl, in der eigenen Küche zu kochen oder in der Gemeinschaft mitzuessen, drei Mahlzeiten pro Tag an sieben Tagen pro Woche. Das nutzen jedoch nicht alle, sondern jeweils nur etwa die Hälfte der Bewohner. Nichtsdestotrotz sind die Mahlzeiten für alle ein wichtiger Anlaufpunkt. Daneben gibt es reichlich andere Möglichkeiten, sich zu begegnen: In zahlreichen Arbeitsgruppen oder Räten, in Freizeitangeboten wie Yoga, Meditation oder Tanz, in der Sauna oder Disco, bei Spiele-Treffen oder Volleyballspielen sowie natürlich auf informeller Basis.

Unsere oben bereits genannten Intensivzeiten sind ein wichtiger Teil unseres Miteianders und der, an dem die meisten Menschen teilnehmen. Hier laden wir uns externe Supervision ein und nehmen uns Zeit, auf unser Miteinander und die Themen, die uns beschäftigen, zu schauen. Diese Zeiten prägen unsere Gemeinschaftskultur sehr stark.

Gibt es konkrete Regeln für das Dorfleben?

Ja, die gibt es, zum Beispiel in Bezug auf die Haushaltsdienste, die jeder Bewohner machen muss: ein bis vier Stunden pro Woche, je nach Häufigkeit der Teilnahme an Mahlzeiten. Oder auch die Tatsache, dass Sieben Linden ein Dorf ist, in dem keine Handy- oder WLAN-Strahlung erwünscht ist, sondern diese Geräte ausgeschaltet bleiben. Dafür hat jedes Zimmer und jeder Bauwagen einen LAN-Internetanschluss und ein Festnetztelefon.

Darf hier jeder leben oder werden neue Bewohner nach bestimmten Kriterien ausgewählt?

Der Zuzug nach Sieben Linden ist ein längerer Prozess, bei dem beide Seiten sich kennenlernen und entscheiden, ob sie zusammen in einer Gemeinschaft leben wollen. Es gibt dafür keine festgelegten Kriterien, das wichtigste ist das Menschliche. Wir wollen mit Menschen zusammenleben, die Lust haben, Sieben Linden mit aufzubauen, und die bereit sind, sich auch den individuellen und gemeinschaftlichen Prozessen zu stellen, die damit verbunden sind. Die Bereitschaft, sich selbst zu reflektieren und konstruktiv an Konflikten zu arbeiten, ist die wesentlichste Grundlage dafür. Andere Kriterien spielen eine untergeordnete Rolle – auch wenn wir immer wieder betonen, dass wir zum Beispiel Handwerker, Landwirte oder jüngere Menschen suchen. Trotzdem ist in der Realität das Zwischenmenschliche das entscheidendste Kriterium.

Wo arbeiten die Menschen des Ökodorfs?

Weniger als 15 von den hier lebenden Erwachsenen haben einen festen Job außerhalb. Die anderen haben entweder einen festen Job in Sieben Linden oder eine Selbstständigkeit, deren Zentrum in Sieben Linden ist. Ich arbeite beispielsweise als Beraterin für andere Gemeinschaftsprojekte, und bin so oft an Wochenenden bei anderen Projekten und begleite sie in ihren Prozessen. Unsere Handwerkenden sind bei jeder internen Baustelle dabei – und wenn es keine interne Baustelle gibt, arbeiten sie auch anderswo.

Welche Probleme ergeben sich im Miteinander? Darf sich auch jemand unökologisch verhalten, zum Beispiel in den Urlaub fliegen?

Zu unserer Ausrichtung vom ökologischen Lebensstil passt es natürlich nicht, wenn jemand in den Urlaub fliegt. Aber wir wissen, dass alles im Leben eine Abwägungsfrage ist. So muss jemand, der in den Urlaub fliegt, auf jeden Fall mit Stirnrunzeln mancher Mitbewohner rechnen – aber natürlich „darf“ hier trotzdem jeder seinen oder ihren Urlaub so gestalten, wie er oder sie möchte. Ich bin beispielsweise dieses Jahr auch geflogen, weil meine Mutter sich zu ihrem 80. Geburtstag gewünscht hat, mit ihren Töchtern eine Reise in die Karibik zu machen. Da war für mich der Wunsch meiner Mutter höher zu werten als meine ökologischen Bedenken, auch wenn ich bewusst in den letzten fast 30 Jahren keine Fernreise gemacht habe. Solche Themen sind aber nicht diejenigen, die zu wirklichen Pro­blemen im Miteinander führen. Ein aktuelles Thema ist zum Beispiel die Wohnraumknappheit, die Tatsache, dass manche WG-Konstellationen nicht gut funktionieren und Familien passenden Wohnraum suchen und es den nicht gibt.

Konnte die ursprüngliche Vision des nachhaltigen Lebens umgesetzt werden oder musste die Idee an die Realität angepasst werden?

Die ganz ursprüngliche Idee war zu radikal, um sie umzusetzen. So hat sich die Gruppe schon 1992 umorientiert, von einer hundertprozentigen Selbstversorgung hin zu einem Nachhaltigkeitsansatz. Seitdem sprechen wir von geschlossenen Kreisläufen und nachhaltigem Lebensstil und nicht mehr von hundertprozentiger Selbstversorgung. Was sich so nach und nach verändert hat, war die Tatsache, dass wir uns von dem Ideal abgewendet haben, mit ganz wenig Geld zu leben. Wir haben festgestellt, dass gerade bewusster Konsum oft eine Entscheidung für die teureren Alternativen ist – und das wollen wir uns leisten können. Trotzdem ist unser Lohnniveau in Sieben Linden immer noch sehr niedrig, niemand im Angestelltenverhältnis verdient mehr als 13 Euro pro Stunde. Aber während wir früher stolz drauf waren, dass wir bewusst mit wenig Geld leben, würden wir heute gerne mehr bezahlen können.

Das Ökodorf wurde als Modellprojekt auch wissenschaftlich begleitet. Was gibt es für Erkenntnisse?

Zum einen gibt es eine recht aktuelle Studie über unseren ökologischen Fußabdruck. Sie zeigt, dass der von uns beeinflussbare Teil des ökologischen Fußabdruckes nur 27 Prozent des deutschen Durchschnitts ist. Darauf können wir stolz sein. Allerdings ist das immer noch nicht genug – denn alleine mit dem Fußabdruck der Infrastruktur verbraucht jeder Deutsche schon fast eine Erde.

Neben dem naturwissenschaftlichen ist jedoch nach Ansicht vieler Sozialwissenschaftler, die uns beforschen, unser Einfluss auf eine kulturelle Veränderung das eigentlich Entscheidende: Wir zeigen auf, dass es Alternativen gibt, dass ein anderer Lebensstil möglich ist und hohe Lebensqualität beinhalten kann. Damit haben wir als Pioniere des Wandels eine wichtige Rolle in der Großen Transformation, also der nachhaltigen Umgestaltung der Gesellschaft. Die Gemeinschaftsforscherin Dr. Iris Kunze von der Universität für Bodenkultur in Wien schrieb uns zusammenfassend über ihre Forschungen sinngemäß, dass solche Gemeinschaften wie unsere Lernfelder für die Umwandlung und Regeneration der Gesellschaft bieten. Und dass es für das Überleben der Menschen auf der Erde dringend mehr im Kleinen erprobte Wege der Transformation brauche statt technisierter, im Labor entworfener top-down Konzepte der herrschenden Eliten.

Gibt es eine Zukunftsvision für das Ökodorf? Wie soll es sich im Idealfall weiterentwickeln?

Wir wollen weiter wachsen, bis zu einer Größe von etwa 250 Menschen. Ein Feld, in dem es wirklich noch großen Handlungsbedarf gibt, ist der Aufbau einer Landwirtschaft – hier beschäftigen wir uns gerade intensiv mit Agroforst-Systemen. Derzeit besitzen wir noch etwa 20 Hektar Acker, die wir noch nicht selber bewirtschaften. Das soll sich in den nächsten Jahren ändern.

Ein weiterer Punkt ist die Energieversorgung. Wir möchten gerne wirklich 100 Prozent selbsterzeugte regenerative Energien nutzen. Dazu gehört für uns eine Stromproduktion oder gute Speichermöglichkeit für die Zeit, wenn die Sonne nicht liefert. Weitere Einsparmöglichkeiten gibt es bei der Heizenergie oder beim Kochen auf Biogas, und idealerweise eine Umstellung unseres Fahrzeugpools auf wirklich ökologische Fahrzeuge – nur haben wir leider noch kein wirklich ökologisches Fahrzeug für Langstrecken und schlechtes Wetter entdeckt. Für Kurzstrecken ist es das Fahrrad.

Im Zwischenmenschlichen wollen wir in Zukunft noch stärker unsere Verbundenheit spüren. Und wir wollen noch stärker durch unsere Seminare und Veranstaltungen nach außen wirken und andere Menschen inspirieren und ihnen Mut machen, ihren eigenen Weg für einen zukunftsfähigen Lebensstil zu gehen.

Liebe Frau Stützel, herzlichen Dank für das Interview.

Bild © Foto: Eva Stützel

Stichworte: Nachhaltigkeit, Nachhaltige Ernährung, Ökologische Landwirtschaft, Klimawandel, Klimaschutz


Einfach – nachhaltig – leben Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 5/2019
Einfach – nachhaltig – leben


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