Jugendesskultur verstehen
In der Pubertät beginnen Jugendliche sich von den Eltern abzugrenzen. Beim Essen wird das besonders deutlich. Ob sich Eltern Sorgen machen müssen, wenn ihre Teenager nur noch Fastfood essen und auf dem Zimmer snacken, haben wir die Systemische Familientherapeutin und UGB-Dozentin Edith Gätjen gefragt.
Im Kleinkindalter sitzt der Nachwuchs noch bei jeder Mahlzeit am Familientisch. Warum ändert sich das in der Pubertät?
Wenn die Kinder noch jünger sind, geben Mahlzeiten eine gewisse Struktur. Sobald sie aber größer werden, beginnt Essen auf einmal eine ganz andere Bedeutung zu bekommen. Aber auch die Zeiten verändern sich. Der eine geht zum Sport, die andere zum Klavierunterricht oder trifft sich mit Freundinnen und Freunden. Auch Eltern sagen: Da kann ich abends mal zum Sport gehen, die Kinder sind ja groß und können allein essen. Das heißt, es wird oftmals auch von Eltern lässiger gesehen und es geht weniger darum, jeden Tag und aus jeder Mahlzeit eine Familienmahlzeit zu machen.
Beim Frühstück ist es zudem oftmals so, dass Jugendliche aufgrund des Schlafhormons Melatonin abends später und morgens länger schlafen. Dann ist eben keine Zeit zum Frühstücken. Zudem braucht es bei Jugendlichen morgens einfach länger, um sich fertig zu machen mit Duschen, das richtige Outfit auszuwählen oder sich zu schminken. Und das alles braucht Zeit und dann lässt man das Essen gerne auch mal weg. Viele Kinder und Jugendliche haben außerdem morgens gar keine Eltern, die mit ihnen essen würden, weil diese schon an der Arbeit sind. Dann lassen sie das Frühstück zuhause weg und essen irgendwo unterwegs.
Vor einigen Jahren war ich einmal in einer achten Klasse eines Musikgymnasiums mit etwas gehobenerem Publikum. Von 30 Kindern gab es nur drei Kinder, die gefrühstückt hatten. Alle anderen kamen ohne Frühstück in die Schule. 90 Prozent von denen sagten: „Wenn da ein Frühstück stehen würde und da jemand wäre, würde ich’s essen.“ Aber da ist niemand. Da denke ich, müssen sich auch Eltern ein bisschen an die Nase fassen und diese Gelegenheiten schaffen.
Welche Bedürfnisse haben Jugendliche in Bezug aufs Essen überhaupt?
Da müssen wir differenzieren: Einmal zwischen dem Essen zuhause und dem Essen unterwegs. Zuhause haben wir noch einmal unterschiedliche Settings: Erstens das Essen mit der Familie, aber auch das Essen allein. Das Familienessen empfinden Kinder als Kommunikations-, Regenerations- und Emotionsort als unglaublich wichtig: Hier gehöre ich bei der Familienmahlzeit dazu und hier kann ich mich gehen lassen. Hier kann ich auch durchaus uncoole Sachen essen, zum Beispiel Hausmannskost. Wir wissen, dass die Kinder das unglaublich gerne essen. Wenn sie aber zuhause allein essen, essen sie Dinge, die bei den Eltern weniger angesagt sind wie Chips oder Süßes. Da essen sie gerne für sich allein, da brauchen sie ihren Rückzug.
Unterwegs hat Essen eher die Funktion der Distinktion. Das heißt, die Jugendlichen möchten sich abgrenzen vom ganzen Zuhause. Sie möchten jetzt gerne das machen, was die Peergroup macht. Mal geht es darum, supersportlich zu werden und ganz viel Eiweiß aufzunehmen, manchmal um sehr gesund zu sein, ein anderes Mal um ethische Aspekte, zum Beispiel kein Fleisch zu essen, oder der Schönheitsaspekt steht im Vordergrund: keine Pickel zu bekommen, tolle Haare, eine schlanke Figur. Das heißt, Essen dient hier außerhalb vom Zuhause der Identifikation. Essen ist dann ein Stilbildungsmittel, also etwas ganz anderes als daheim bei den Eltern.
Habe ich das richtig verstanden: Die Abgrenzung vom Familientisch hängt also gar nicht damit zusammen, welches Essen die Eltern anbieten?
Einmal kann es sein, dass die Jugendlichen einfach etwas anderes essen möchten und vor allen Dingen allein. Da hat das Essen selbst auch weniger Bedeutung. Manchmal ist die Familienmahlzeit aber kein Regenerationsort. Das passiert, wenn Eltern gestresst ankommen oder Themen mit Konfliktpotenzial auf den Tisch kommen, wie schlechte Schulnoten oder das unaufgeräumte Zimmer. So nach dem Motto: Jetzt sitzen wir mal zusammen, jetzt können wir endlich mal alle diese Dinge ansprechen. Aus dieser Atmosphäre ziehen sich Kinder raus, weil sie so keine Lust oder Motivation haben, am gemeinsamen Essen teilzunehmen.
Mit anderen Worten: Konflikte gehören nicht an den Familientisch?
Genau! Hier geht es wirklich darum, eine gute Zeit zu haben und darüber die Beziehung zu nähren. Das ist eigentlich das, was entscheidend ist. Oft gucken Eltern vor allem auf das, was ihre Kinder essen. Sei es, dass ein Kind den Salat und das Gemüse nicht anrührt oder sehr wenig isst, weil es gerade stark auf die Energie achtet. Oder es wird kommentiert: Jetzt noch einen Teller? So wirst du aber auseinandergehen! Das nervt und ist unangenehm. Kinder möchten gerne unbeobachtet essen. Das ist übrigens auch schon bei den Jüngeren so.
Frei und unbewertet essen zu können, sollte beim Familienessen das Ziel sein. Die Kinder sollten frei wählen können aus dem, was die Eltern auf dem Tisch anbieten. Da braucht es auch keine Extrawurst. Wenn sich die Kinder ihre Tiefkühlpizza mit aufs Zimmer nehmen, sich einen Eiweißshake rühren oder das Toastbrot mit Nutella essen, dann geht es einfach nur um Abgrenzung. Es ist die harmloseste Art, sich von Eltern zu lösen. Kinder müssen sich abgrenzen. Sie müssen in wenigen Jahren das Elternhaus verlassen. Das fällt den Kindern schwerer als den Eltern. Und wenn man sich unbeliebt macht, dann läuft das Ganze leichter (lacht).
In Fachkreisen wird seit Jahren viel über die Verbesserung des Schulessens diskutiert. Welche Bedeutung hat die Schulmensa für das Essen von Teenagern?
Das Schulessen ist ein ganz wichtiges Bindeglied zwischen dem Essen zuhause und dem Essen mit der Peergroup. Die meisten Teenager wählen quasi die Mensa ab, weil das Essen dort uncool ist. Schulen sollten sich deshalb Gedanken machen, wie sie das besser hinbekommen. Das beginnt schon bei der Einrichtung, dass die Pubertierenden zum Beispiel eine Art Lounge bekommen und nicht mit den Fünft- und Sechstklässlern zusammen essen. Das nervt die Älteren nämlich. Und die Jugendlichen brauchen eine Nudel- und Salatbar. Das Schulessen lässt sich auch wunderbar mit Ernährungsbildung kombinieren, weil sich Essen mit anderen Fächern in Verbindung bringen lässt. Nicht nur mit Biologie, auch mit Erdkunde, Geschichte und Kunst. Da kann man Aspekte wie Nachhaltigkeit, Gesellschaft oder Ethik gut aufzeigen.
Machen sich Eltern zu viele Sorgen, wenn sie ihre Kinder nur noch snacken oder Fastfood essen sehen?
Sie müssen sich überhaupt keine Sorgen machen! Aus vielen Untersuchungen ist bekannt, dass das, was Kinder in den ersten 1000 Tagen gegessen haben, entscheidend ist. In der Pubertät brechen sie eine Zeit lang aus, kehren aber später von allein wieder zurück zu dem, was sie in der Familie gewohnt waren. Eltern sollten eher sagen: Mach deine Abgrenzung! Das ist besser, als Alkohol und Drogen zu nehmen. Aber ein gesunder, von Anfang an gut genährter Körper, der hält das aus. Da muss man sich keine Sorgen machen.
Was würdest Du Eltern empfehlen, was können sie tun oder was sollten sie besser lassen, um ihre Kinder an eine vollwertige, gesunde Ernährung heranzuführen?
Gar nichts tun, einfach weiterhin vollwertig kochen und den Kindern ohne Druck anbieten. Was nicht heißt, dass Eltern sich nicht auch einmal darauf einlassen und fragen können, was wünscht ihr euch, und dann auch wirklich darauf eingehen: Ja klar, wenn ihr Pizza wollt, dann machen wir eben Pizza, auch mit Weißmehl. Ich mache noch einen Salat dazu.
Das eine ist ja das Anbieten und den Kindern das Essen immer schön anzurichten. Viel effektiver ist es doch wahrscheinlich, Kinder schon von Anfang ins Kochen mit einzubeziehen?
Richtig! Aber da muss man auch früh mit anfangen. Wenn Eltern erst mit 15, 16 damit beginnen, dann stehen die Kinder oft da und denken sich: Boah, wie geht Kochen denn jetzt hier eigentlich? Das heißt, Eltern müssen schon frühzeitig beginnen, die Kinder bei Einkauf und Zubereitung zu beteiligen. Das funktioniert schon im Kindergartenalter bestens. Bei Jugendlichen können Eltern durchaus hingehen und sagen: Hey, wir sind jetzt hier eigentlich ein bisschen Wohngemeinschaft. An zwei Tagen seid ihr fürs Essen verantwortlich, die anderen fünf machen wir. Hier ist das Budget, davon könnt ihr einkaufen. Aber dann müssen wir als Eltern auch zufrieden sein mit dem, was gekocht wird. Wenn Jugendliche da schon wieder hören, das ist aber nicht richtig, hätte gesünder sein müssen oder ähnliches, dann wird es auch wieder schwieriger.
Welchen Rat kannst Du Eltern geben, um ältere Kinder – so mit 16, 17 Jahren – wieder zurück an den Familientisch zu holen?
Sicherlich erstmal den Anspruch herunterschrauben. Nicht hingehen und sagen: Das muss jeden Tag passieren, um sechs Uhr müssen alle da sein! Sondern, dass man sich überlegt, was wäre eigentlich ein guter Tag, wo wir vom Prinzip alle da sind, und diesen Tag dann auch zu einem Feiertag zu machen. Das ist in der Praxis oftmals der Sonntagabend. Da ist kein Sport, da geh ich nicht mehr aus, da fangen alle am Montag wieder an. Vielleicht lässt sich das auch als eine Art Ritual einrichten, dass wir uns sonntagabends treffen – gerne auch schon ein bisschen früher – und vielleicht sogar gemeinsam unser Wunschessen kochen.
Essen als Familienevent sozusagen.
Ein Familienevent, ganz genau. Ich erzähl an der Stelle immer sehr gerne das, was ich bei einem meiner besten Freunde erlebt habe. Die waren vier Geschwister. Die Mutter war Geschäftsfrau und hatte unter der Woche ganz wenig Zeit. Sie hat es aber geliebt, zu kochen. Dann hat sie sonntags gekocht, und zwar in rauen Mengen, damit jeder der vier Kinder so viele Freundinnen und Freunde zum Essen einladen konnte, wie er wollte. Da saßen wir da manchmal mit 12, 13 Leuten am Tisch. Noch im Studium durfte ich da hin. Das waren wunderschöne Erlebnisse. Und die Eltern hatten ihre Kinder immer da, jeden Sonntag. Damit haben sie unglaublich viel erreicht. Also ich weiß gar nicht, ob das der Mutter immer so klar war, wie schlau das war (lacht). Sie hat das wirklich von Herzen gemacht.
Als Fazit könnte man also sagen: Anspruch runter, gelassen bleiben und nicht so viele Sorgen machen?
Ja, auf jeden Fall. Eine Abgrenzung muss passieren. Und zwar eben auf dem Weg der Identifikationsbildung. Das ist enorm wichtig, schon bei den Kleinen: Raus aus den Bewertungen bei Tisch! Diesen Fehler machen leider sehr viele Eltern. Immer wieder wird bewertet, wie gegessen wird, was gegessen wird: Nimm doch noch ein bisschen von dem gesunden Salat. Besser ist es, einfach das, was auf den Tisch kommt, freizugegeben, das muss ich nicht ständig anbieten. In einer funktionierenden Familie wissen Kinder: Das, was auf dem Tisch steht, darf ich essen. Da muss ich nicht immer sagen: Probiere doch mal!
Liebe Edith, Danke für das aufschlussreiche Gespräch.
Seminartipp
Gesundheit bei Jugendlichen zu fördern, braucht als Basis Einsicht in ihre Lebenswelt und Verständnis für ihre Entwicklungsschritte. Anhand des Themas Essen zeigt UGB-Dozentin Edith Gätjen im Seminar Jugendliche motivieren einen systemischen Ansatz auf, was Kinder und Jugendliche beeinflusst und formt und wer sie wie fördern kann. Das Online-Seminar richtet sich gleichermaßen an Eltern, Lehr- und Ernährungsfachkräfte sowie Menschen, die mit Heranwachsenden arbeiten.
Bild © monkeybusiness, MoniQcCa/depositphotos.com
Stichworte: Jugendesskultur, Gesundheitserziehung, Vollwert-Ernährung, Erziehung, Pädagogik, Familienessen, Schulmensa, Kochen mit Kindern, Peergroup
Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 5/2024
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