Update Ballaststoffe

Während unsere Vorfahren außerordentlich viele Ballaststoffe in ihrem Essen hatten, lässt der heutige Verzehr zu wünschen übrig. Dabei sind die unverdaulichen Bestandteile längst nicht nur für die Darmgesundheit von Belang. Neuere Studien deuten auch auf anti-entzündliche Wirkungen und positive Effekte für die Hirnfunktion hin.

An welche Art von Ernährung wir evolutionsbedingt angepasst sind, ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Verfechter:innen der Steinzeitdiät, auch Paleo-Ernährung genannt, gehen davon aus, dass der Mensch sich überwiegend auf Fleisch, Fisch und Eier sowie Nüsse, Samen, Gemüse und Beerenobst fokussiert hat. Allerdings hat es evolutionsgeschichtlich nie eine spezifische menschliche Ernährungsweise gegeben. Menschen ernährten sich stets vielfältig, abhängig von geografischer Lage, Jahreszeit, Nahrungsmittelverfügbarkeit und klimatischen Bedingungen.

Der ursprünglichen Nahrung von uns Menschen kommen wir vermutlich am nächsten, wenn wir uns die Ernährungsgewohnheiten unserer nächsten Verwandten anschauen, der Menschenaffen. Genetisch unterscheiden wir uns von Schimpansen und Bonobos nur um 1,2 Prozent, von Gorillas lediglich um 1,6 Prozent; bei den Orang Utans beträgt der Unterschied 3,1 Prozent. Unsere nahen Verwandten haben das traditionelle Ernährungsmuster unserer früheren gemeinsamen Ahnen beibehalten und versorgen sich heute noch überwiegend mit Früchten, Blättern und einem kleinen Anteil an Insekten. Obwohl bei Schimpansen durchaus ein Jagdverhalten zu beobachten ist, besteht ihre Ernährung zu 85 bis 99 Prozent aus pflanzlicher Nahrung, überwiegend Früchte.

Pflanzenbetonte Kost hinterlässt Spuren

Im Laufe der Evolution hat der Mensch sich durch Jagen und Kochen Zugang zu nährstoffreicher und leicht verdaulicher Nahrung geschaffen. Daher finden sich im Vergleich zu den Menschenaffen im Darm strukturelle Unterschiede. Die starken Ausbuchtungen des Dickdarms sowie die Fähigkeit der mikrobiellen Fermentation von Ballaststoffen zu kurzkettigen Fettsäuren (SCFA) sind uns jedoch erhalten geblieben. Das lässt vermuten, dass Menschen zwar Allesesser (Omnivore) sind, jedoch mit einer stark pflanzenbetonten Ausprägung.

Untermauert wird diese Vermutung durch Koprolithe. Dabei handelt es sich um prähistorische Hinterlassenschaften unserer Vorfahren, nämlich mineralisierte Fäzes. Analysiert man Koprolithe, noch ehe die Menschen Landwirtschaft betrieben, zeigt sich ein Großteil der unverdauten Fragmente und DNA-Rückstände pflanzlichen Ursprungs. Die Steinzeithaufen zeigen dabei größere Ähnlichkeiten mit Stuhlproben aus ländlichen Gebieten Chinas oder Afrikas als mit denen westlicher Industrienationen.

Heutige Ballaststoffzufuhr zu gering

Unsere Urahnen verzehrten schätzungsweise 100-225 Gramm Ballaststoffe pro Tag. Die Ballaststoffzufuhr ländlicher Gebiete Chinas oder Afrikas, wo die Ernährung traditionell pflanzenbetont ist, beträgt auch heute noch rund 60-120 Gramm pro Tag. Die meisten westlichen Industrienationen erreichen nicht einmal die empfohlene Mindestzufuhr von 30 Gramm. Dabei sehen einige Wissenschaftler:innen die derzeit empfohlene Mindestzufuhr an Ballaststoffen sogar noch als unzureichend an. Um signifikante Effekte auf die Gesundheit zu vermitteln, wird eine Mindestzufuhr von 50 Gramm pro Tag diskutiert. Möglicherweise ist die höhere Ballaststoffzufuhr der ländlichen Regionen in Afrika und China ein Grund, warum dort Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder des Verdauungstraktes deutlich seltener vorkommen.

Tatsächlich zeigen systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen, dass mit zunehmender Ballaststoffzufuhr über die Ernährung das Risiko für koronare Herzerkrankungen, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes und einige Krebserkrankungen deutlich abnimmt. Das Gute daran: Es liegt hier eine Dosis-Wirkungs-Beziehung vor. Je mehr Ballaststoffe konsumiert werden, desto wirksamer ist auch der Schutz vor diesen Erkrankungen.

Hinweise für antientzündliche Wirkung

Ballaststoffe reduzieren nicht nur das Risiko für bestimmte Erkrankungen, sondern sind auch wichtig für die Darmgesundheit. Das ist vielen inzwischen bekannt. Doch die unverdaulichen Bestandteile unserer Nahrung können noch mehr. So zeigen sie zum Beispiel auch anti-entzündliche Wirkungen. Zum einen erleichtern ballaststoffreiche Lebensmittel aufgrund ihrer geringeren Energiedichte sowie stärkeren Sättigung eine Gewichtsreduktion und wirken so mit Übergewicht assoziierten Entzündungen entgegen. Denn Fettgewebe ist nicht nur ein rein energiespeicherndes Gewebe, sondern auch ein stoffwechselaktives Organ. So produziert es unter anderem entzündungsfördernde Zytokine. Diese Botenstoffe gelten als Risikofaktoren für eine Insulinresistenz sowie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems.

Ein anderer entzündungshemmender Mechanismus erfolgt gewichtsunabhängig über unsere Darmbakterien. Kurzkettige Fettsäuren sind die Hauptprodukte, die im Rahmen der bakteriellen Fermentation aus löslichen Ballaststoffen im Dickdarm gebildet werden. Dabei entstehen überwiegend Acetat, Propionat und Butyrat, die den Dickdarm vor Entzündungen schützen können. Dies könnte eine Erklärung sein, warum eine hohe Ballaststoffzufuhr mit einem geringerem Dickdarmkrebsrisiko in Verbindung steht.

Kurzkettige Fettsäuren zeigen Wirkung

Über 90 Prozent der kurzkettigen Fettsäuren werden im Dickdarm absorbiert und in den Darmzellen beziehungsweise der Leber verstoffwechselt. Lediglich Acetat kann der Verstoffwechslung von Leber und Darm entfliehen und somit auch in peripheren Geweben anti-entzündliche Effekte vermitteln. Möglicherweise übt dies auf Erkrankungen mit einer entzündlichen Komponente einen positiven Einfluss aus. Die Wirkung kann jedoch keinesfalls eine Therapie mit entzündungshemmenden Medikamenten ersetzen. Es wäre aber durchaus denkbar, dass eine ballaststoffreiche Ernährung als unterstützende Maßnahme zur medikamentösen Therapie fungieren könnte.

Einfluss auf das Immunsystem

Die Zahl der Allergien und Autoimmunerkrankungen hat über die letzten Jahrzehnte deutlich zugenommen. Neben einer genetischen Veranlagung spielen veränderte Umweltfaktoren, Lebensstil sowie die heutigen Essgewohnheiten als Trigger eine entscheidende Rolle. Möglicherweise ist daran auch die geringe Ballaststoffaufnahme beteiligt. Denn präbiotisch wirksame Ballaststoffe fördern die Aktivität sowie das Wachstum nützlicher Darmbakterien, die die bereits erwähnten kurzkettigen Fettsäuren produzieren. Diese können wiederum Rezeptor-vermittelt einen positiven Einfluss auf die Differenzierung sowie die Aktivität von Immunzellen ausüben. Wissenschaftler:innen gehen unter anderem von einer verminderten IgE-Produktion durch Th2-Lymphozyten aus, was letztlich Allergiesymptome unterbinden könnte.

Butyrat scheint darüber hinaus regulatorische T-Zellen anzuregen, die Freisetzung entzündlicher Botenstoffe zu blockieren und die Differenzierung von pro-entzündlichen zu anti-entzündlichen Fresszellen (Makrophagen) einzuleiten. Die kurzkettigen Fettsäuren fördern vermutlich auch die Sekretion von Immunglobulin A aus der Darmschleimhaut, was zusätzlichen Schutz vor der Aufnahme von Krankheitserregern über den Darm bietet.

Stärkung der Darmbarriere

Interessanterweise können Ballaststoffe auch eine direkte Wirkung auf das Immunsystem ausüben, das heißt, ohne in kurzkettige Fettsäuren umgewandelt zu werden. So wird die Schleimproduktion (Mukus) im Darm angekurbelt, das Epithelzellwachstum gefördert sowie der Schutzwall aus Membranproteinen (Tight-Junction-Konstrukt) verbessert. Daraus resultiert eine Stärkung der Darmbarriere. All das sind jedoch Erkenntnisse aus Laborversuchen. Bis dato gibt es nur eine limitierte Evidenz, dass eine hohe Ballaststoffzufuhr Immunsystem assoziierten Erkrankungen tatsächlich entgegenwirken kann. Zu vielfältig ist unsere Darmmikrobiota und zu unterschiedlich ihre Umwandlungskapazitäten für diverse Nahrungsmittelbestandteile, als dass eindeutige klinische Ergebnisse entstehen könnten. Bevor die immunologischen Vorteile durch Ballaststoffe bestätigt werden können, bedarf es also größerer und qualitativ hochwertiger Studien.

Ballaststoffe gut fürs Gehirn?

Das zuvor angesprochene Acetat ist aufgrund seiner systemischen Wirkung in der Lage, auch die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Möglicherweise kann es so auch im Hirngewebe entzündungshemmende Effekte vermitteln. Dies könnte ein Grund sein, warum in einer Beobachtungsstudie ein höherer Ballaststoffgehalt in der Ernährung der älteren Bevölkerungsgruppe zum Erhalt der kognitiven Funktion beitrug. Auch scheint eine höhere Ballaststoffzufuhr im jungen Erwachsenenalter vor kognitivem Verfall im späten Alter zu schützen, darauf deuten epidemiologische Studien hin.

Forschende gehen auch davon aus, dass kurzkettige Fettsäuren sogenannte neurotrophe Faktoren im Gehirn modulieren. Sie regulieren das Wachstum, das Überleben sowie die Differenzierung von Nervenzellen. Diese Nervennährstoffe sind in der Lage, Lernprozesse oder die Gedächtnisleistung zu verbessern. Zudem könnten die kurzkettigen Fettäuren über die Aktivierung des Vagusnervs, der die nervale Verbindung zwischen Darm und Hirn bildet, ebenfalls die Gedächtnisleistung stärken. Generell ist die Anzahl und Qualität der Humanstudien allerdings auch hier zu begrenzt, um konkrete Aussagen in Bezug auf Ballaststoffe und Hirngesundheit treffen zu können.

Präparate sind unwirksam

Bei all den potenziell günstigen Wirkungen muss bedacht werden, dass eine hohe Ballaststoffzufuhr nur ein Marker einer gesunden Ernährungsweise ist. Denn mit der Aufnahme ballaststoffreicher Lebensmittel gehen viele weitere positive Inhaltsstoffe einher. Schließlich gibt es Hinweise, dass sekundäre Pflanzenstoffe ebenfalls die genannten positiven Effekte ausüben könnten. Wichtig zu wissen ist darüber hinaus, dass die positiven Effekte nicht auf Ballaststoffpräparate zurückgeführt wurden. Denn im Rahmen ihres Herstellungsprozesses werden Ballaststoffpräparate teilweise hoher Hitze und hohem Druck ausgesetzt, sodass sich dadurch ihre gesundheitsfördernden Eigenschaften verändern.

Differenzierung statt Dämonisierung

Um noch einmal auf die Steinzeitdiät zurückzukommen: Wir sollten das Konzept nicht komplett verteufeln. So hat Fleisch unter anderem zu unserer Hirnentwicklung beigetragen. Ein erhöhter Verzehr, vor allem von verarbeitetem Fleisch, steht jedoch mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und Dickdarmkrebs in Verbindung. Ein praktikabler Ansatz in der heutigen Zeit wäre, die gesundheitlich positiven Aspekte der Ernährung früherer Jäger und Sammler zu übernehmen, sprich vermehrt Gemüse, Obst, Nüsse und vor allem unverarbeitete Lebensmittel zu verzehren, gleichzeitige aber die Zufuhr tierischer Lebensmittel zu reduzieren.

Der Speiseplan sollte ergänzt werden um Vollkorngetreide und Hülsenfrüchte. Sie stehen nachweislich mit gesundheitlich positiven Effekten in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder einigen Krebserkrankungen in Verbindung. Deshalb gehören diese ballaststoffreichen Lebensmittelgruppen unbedingt in die tägliche Ernährung.

Bild © AntonMatyukha/depositphotos.com

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Alles steht Kopf – fit durch die Pubertät Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 5/2024
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