Übergewicht und Depressionen gemeinsam angehen

Starkes Übergewicht kann die Psyche belasten oder selbst seelische Ursachen haben. Forscher beobachten immer häufiger Wechselwirkungen zwischen Übergewicht und Depressionen. In der Ernährungstherapie mit Übergewichtigen sind deshalb auch psychologische Aspekte zu berücksichtigen.

Gemäß aktueller Einschätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind über die Hälfte aller Erwachsenen in Deutschland übergewichtig. Ungefähr 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen bringen zu viel Gewicht auf die Waage. Gleichzeitig leiden schätzungsweise 8,2 Prozent der Erwachsenen an Depressionen. Die Tendenzen sind steigend.

Seelische Gesundheit in Gefahr

Ein Viertel der Männer und Frauen in Deutschland ist stark übergewichtig (adipös). Gesundheitlich gefährlich wird es vor allem dann, wenn andere Beschwerden wie Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes oder erhöhte Blutfettwerte hinzukommen. Zudem treten mit zunehmendem Körpermasse-Index (BMI) wesentlich häufiger gesundheitliche Beeinträchtigungen auf wie Bewegungsbeschwerden oder Herz-Kreislauf-Probleme. Aber auch seelisch kann Übergewicht eine starke Belastung bedeuten. Stark Übergewichtige haben in ihrem Alltag häufig mit Vorurteilen und Stigmatisierung zu kämpfen: Wer zu viele Pfunde auf die Waage bringt, sei selbst schuld, ernähre sich schlecht oder gilt als undiszipliniert und faul. Das kann zum Beispiel auch die Jobsuche erschweren und so die Existenzgrundlage gefährden. Welchen Einfluss die Stigmatisierung auf die Betroffenen hat, ist vielen nicht bewusst.

Studien zeigen, dass schwer übergewichtige Patienten eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von Depressionen haben. Umgekehrt stellten Forscher fest, dass depressive Menschen häufiger an Übergewicht leiden. Frauen scheinen von diesem Phänomen öfter betroffen zu sein als Männer. Bisher ist jedoch unklar, was die genauen Ursachen für die Wechselwirkungen zwischen Depressionen und Adipositas sind. Denn hinter den Ursachen steht ein komplexes Beziehungsgeflecht.

Bewegung ist ein starker Faktor in der Therapie

Experten gehen davon aus, dass sowohl genetische, sozio-kulturelle als auch psychologische Faktoren eine Rolle für die gegenseitige Beeinflussung spielen. Zum einen können durch starkes Übergewicht bedingte Bewegungsbeschwerden zu Einschränkungen im Alltag führen. Die verminderte körperliche Aktivität ist ihrerseits häufig mit depressiven Symptomen verbunden. Dagegen verbessert regelmäßiger Ausdauersport wie Schwimmen, Radfahren oder Joggen bereits nach 10-14 Tagen die depressive Symptomatik. Auch die Zufriedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Depressionen. Viele Übergewichtige leiden unter einem verminderten Selbstwertgefühl und sind unzufrieden mit ihrem Aussehen. Gesellschaftliche Stigmatisierungen und schlanke Schönheitsideale in Film und Werbung sind hierfür mitverantwortlich.

Ursache westlicher Lebensstil

Sowohl der Ernährungs- als auch der Lebensstil können in den reichen Industrieländern die Entstehung von Übergewicht und Depressionen fördern. Ein Überangebot von Zucker, stark verarbeiteten und fettreichen Lebensmitteln sowie die ständige Lebensmittelverfügbarkeit fördern eine ungesunde, überkalorische Ernährungsweise. Die Werbung der Lebensmittelindustrie für fettreiche Snacks und Fertiggerichte oder überzuckerte Softdrinks trägt ihren Teil dazu bei. Zugleich ist in einer schnelllebigen und stetig komplexer werdenden Welt Stress eine der Hauptursachen für die Entwicklung depressiver Erkrankungen. Stress wiederum begünstigt Übergewicht.

Hormonelle Fehlregulation möglich

Forscher vermuten, dass ähnliche Hormone und Wirkungswege an der Entstehung von Übergewicht und Depressionen beteiligt sind. Eine mögliche Verbindung ließe sich beispielsweise durch die Überaktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) erklären. Die HPA-Achse ist maßgeblich an der Regulation der Stressantwort beteiligt. Bei depressiven Personen und Menschen mit starkem Übergewicht ist die HPA-Achse überaktiviert. Dadurch wird übermäßig Cortisol in der Nebennierenrinde freigesetzt. Das ausgeschüttete Stresshormon hat eine appetitsteigernde Wirkung. Selbst bei ansonsten gesunden Personen wird eine Fehlregulation mit einer Gewichtszunahme in Verbindung gebracht.

Die Überstimulation der HPA-Achse kann sich außerdem auf die Leptin-Regulation auswirken und zu einer Fehlregulation des Hormons führen. Zusammen mit dem appetitsteigernden Ghrelin ist Leptin an der Steuerung des Hunger- und Sättigungsgefühls beteiligt. Eine gestörte Regulation kann Appetit und Gewichtszunahme steigern und wird sowohl bei depressiven als auch stark übergewichtigen Personen beobachtet.

Antidepressiva unter Verdacht

Unter dem Verdacht, Auswirkungen auf das Gewicht zu haben, stehen einige gemütsaufhellende Psychopharmaka. Substanzen wie Trizyklische und Tetrazyklische Antidepressiva konnten in Langzeitstudien mit einer gewichtsfördernden Wirkung in Verbindung gebracht werden. Einige Wissenschaftler vermuten, dass der weit verbreitete Einsatz von Antidepressiva langfristig zu einem erhöhten Risiko für Übergewicht beiträgt. Aktuell ist die Studienlage jedoch sehr uneinheitlich. Daher können keine eindeutigen Aussagen zur Wirkung von Antidepressiva auf das Gewicht getroffen werden. Im Falle einer ungewollten Gewichtszunahme während einer medikamentösen Therapie empfiehlt es sich, Rücksprache mit einem Arzt zu halten.

Stress verursacht emotionales Essen

Essen bedeutet weitaus mehr als reine Nahrungsaufnahme. Es ist auch ein soziales Ereignis: das gemeinsame Familienessen, das Kantinenessen mit Kollegen oder ein romantisches Abendessen zu zweit. Genauso kann es aber auch dem emotionalen Ausgleich (Affektregulation) dienen. So können sich aus andauerndem Stress ungesunde Verhaltensmuster entwickeln, die die Gewichtszunahme begünstigen. Wenn Betroffene keine entsprechenden Mechanismen zur Hand haben, werden Stress, Wut oder Trauer durch den Griff in den Kühlschrank kompensiert. So zählen Depressionen zu den häufigsten Ursachen für emotional gesteuertes Essen.

Binge Eating & Depressionen

Besonders problematisch werden affektgesteuertes und emotionales Essen, wenn sie sich in Form der sogenannten Binge-Eating-Störung (BES) verfestigen. Darunter versteht man wiederholte Episoden von unkontrollierten Essanfällen. Betroffene verlieren in bestimmten Situationen die Kontrolle über ihr Essverhalten. Sie essen dann schneller als normalerweise und verschlingen häufig große Mengen, bis ein unangenehmes Völlegefühl entsteht. Oft sind sie dabei gar nicht hungrig. Für viele bedeutet der Kontrollverlust eine große psychische Belastung. Betroffene fühlen sich im Nachhinein oft traurig, schuldig oder sind angeekelt von ihrem Verhalten.

Übergewichtige Frauen mit BES sind meist unzufrieden mit ihrem Gewicht und ihrer Körperform, haben ein geringeres Selbstwertgefühl und zeigen häufig zusätzliche psychologische Auffälligkeiten wie Depressionen. Die Psychotherapie hat sich mittlerweile als die beste Behandlung einer BES erwiesen.

Süßigkeiten als Trostspender, Chips gegen Langeweile und Einsamkeit – solche erlernten Verhaltensweisen sind maßgeblich an der Entstehung von Übergewicht beteiligt und werden durch Depressionen verschlimmert. Schlechte Ernährungsgewohnheiten bestehen oft über einen langen Zeitraum. Um diese jahrelang antrainierten Muster zu durchbrechen, braucht es dementsprechend Zeit und Durchhaltevermögen. Besonders mit Letzterem haben depressive Personen häufig Schwierigkeiten. Studien zeigen, dass mehr depressive Patienten eine Ernährungstherapie abbrechen als Teilnehmer, die nicht an Depressionen leiden. Grund dafür sind häufig die typischen Symptome, die mit Depressionen einhergehen wie Antriebslosigkeit, chronische Abgeschlagenheit und Motivationsverluste.

Erhöhtes Risiko für Kinder und Jugendliche

Weisen Kinder und Jugendliche bereits starkes Übergewicht auf, kann das großen Einfluss auf ihre weitere Entwicklung haben. Forscher fanden heraus, dass Heranwachsende, die zu viel Gewicht auf die Waage brachten, als Erwachsene häufiger unter Depressionen leiden als andere. Diese Beziehung wird auch in die andere Richtung beobachtet. Prospektive Studien weisen darauf hin, dass Depressionen im Kindes- und Jugendalter die Entwicklung von Adipositas im Erwachsenenalter fördern.

Eine Studie aus Glasgow zeigt, dass depressive Patienten während eines Abnehmprogramms an deutlich weniger Sitzungen teilnahmen als Nicht-Depressive. Dabei stellt die regelmäßige Teilnahme einen wichtigen Faktor für die Effektivität einer Therapie dar. Personen, die häufiger an Therapiesitzungen teilnehmen, erzielen bessere Erfolge als solche, die weniger häufig zu den Sitzungen erscheinen. Wenn die eigene Motivation fehlt, ist es für eine erfolgreiche Therapie wichtig, dass besonders Patienten mit Depressionen zu regelmäßiger Teilnahme ermutigt werden.

Angepasste Therapie kann helfen

Erfolgreiche Programme für ein Gewichtsmanagement setzen auf einen interdisziplinären Ansatz. Die Bereiche Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie dienen als Grundsäulen der Behandlung. Wie sich eine integrierte Therapie für Depressionen auswirkt, untersuchten amerikanische Wissenschaftler an 409 übergewichtigen und depressiven Patienten. Die Teilnehmer, die eine zusätzliche Therapie für Depressionen erhielten, erzielten erheblich bessere Ergebnisse bei der Gewichtsabnahme. Auch die depressiven Symptome verbesserten sich deutlicher.

Weitere Studien zeigen, dass Probanden, die sich während eines Abnehmprogramms in einer Phase abklingender Depressionen befinden, bessere Ergebnisse erzielen als Probanden, die keinen Rückgang ihrer Depressionen erleben. Die Ergebnisse zeigen, dass sich in einigen Fällen eine zusätzliche psychologische Betreuung als hilfreich erweist. Der Erfolg ist jedoch individuell und betrifft nicht alle Patienten.

Ernährungsberater, die mit Übergewichtigen arbeiten, müssen auch die seelische Situation der Klienten im Blick haben. Bei Anhaltspunkten für eine Depression oder andere psychologische Störungen empfiehlt es sich, diese anzusprechen. Gemeinsam mit dem Betroffenen kann dann geklärt werden, ob eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll ist.

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Stichworte: Übergewicht, Depressionen, Therapien, Binge-Eating, HPA-Achse, Stress, Entzündungen


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