Interview: "Darmprobleme nehmen zu"

Die Ernährungstherapeutin und systemische Essberaterin Eva Hennes hat sich auf Darmerkrankungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten spezialisiert. Mit Problemen der Verdauungsorgane kennt sie sich daher aus. Wir befragten sie zu Erfahrungen in ihrer Beratungspraxis.

Mit welchen Darmproblemen kommen Klient:innen zu Ihnen in die Praxis?

Menschen mit chronischen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn und vor allem Reizdarm finden den Weg zu mir. Viele meiner Klient:innen haben aber auch Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten oder Divertikulose, das heißt eine Ausstülpung der Darmwand.

Haben sich Art und Häufigkeit der Erkrankungen in den letzten 20 Jahren verändert?

Mein Gefühl sagt: ja. In den letzten Jahren kommen viel mehr Menschen mit Reizdarmsyndrom zu mir. Das mag daran liegen, dass heute doch eher über Probleme wie Durchfall, Verstopfung und Unwohlsein nach dem Essen gesprochen wird. Die Thematik ist nicht mehr so mit Scham behaftet. Die Zahl der Betroffenen ist aber in der Tat gestiegen. In Deutschland sind schätzungsweise sieben Prozent der Bevölkerung von einem Reizdarmsyndrom betroffen. Das wird mit Sicherheit an unserem Lebensstil liegen. Hohe Erwartungen, Druck oder Stress gehen an so manchen Darm nicht spurlos vorbei und wirken negativ auf die Darm-Hirn-Achse. Hinzu kommen das schnelle Essen und die vielen chemischen Zusätze in verarbeiteten Produkten. Das mag der Darm nicht und rebelliert. Im Bereich der Unverträglichkeiten ist die Anzahl an Betroffenen mit Fruktosemalabsorption angestiegen. Die Wissenschaft erklärt dies mit dem hohen Konsum von isolierter Fruktose in Fertigprodukten.

Was halten Sie für die wichtigsten Einflussfaktoren auf die Darmgesundheit?

Unsere rasante Lebensweise, Umweltbelastungen und vor allem das Essverhalten beeinflussen die Darmgesundheit – also nicht nur was, sondern auch wie wir essen. Wir kommen kaum zur Ruhe. Viele stehen unter Dauerstress – ob beruflich oder privat. Das hat zur Folge, dass unser sympathisches Nervensystem aktiver ist als das parasympathische. Das wiederum schränkt unsere Darmtätigkeit ein. Damit funktioniert auch die Verdauung nur unzureichend, das heißt das Aufschlüsseln und die Aufnahme von Nährstoffen. Das wirkt sich auf den gesamten Organismus aus.

Gehen wir durch den Supermarkt, finden wir hier eher verpackte Lebensmittel mit langen Zutatenlisten und vielen E-Nummern. In der Evolution hat unser Körper nicht gelernt, damit umzugehen. Besonders die Darmwand reagiert empfindlich auf chemische und isolierte Nahrungszusätze. Sie sind Mitursache für das immer häufiger auftretende Leaky-Gut-Syndrom, dem durchlässigen Darm. Hier gelangen Stoffe in die Blutbahn, die dort nichts zu suchen haben, und verursachen mitunter stille Entzündungen.

Was weiß man heute über die Bedeutung des Darms für unser Wohlbefinden?

Schon Paracelsus stellte fest: „Der Tod sitzt im Darm.“ Ich mag eher eine positive Formulierung: „Gesundheit kommt aus dem Darm.“ Ich vergleiche den menschlichen Körper gerne mit einem alten stabilen Baum. So wie die Kraft des Baumes nicht aus seinen Ästen und Zweigen kommt, sondern aus den Wurzeln, so kommt die menschliche Kraft nicht aus Armen und Beinen, sondern aus den Verdauungsorganen, besonders dem Darm. Da unten im Dunklen spielt sich vieles ab. Hier werden Nährstoffe zerstückelt und es entscheidet sich, was gebraucht wird und was nicht. Von besonderer Bedeutung sind die im Darm lebenden Mikroorganismen, das Darmmikrobiom. Die Bakterien leisten wahre Powerarbeit. Sie helfen bei der Nahrungsverwertung, sorgen für die Produktion von Darmschleim, stärken das in der Darmwand lokalisierte Immunsystem und produzieren Stoffe, die unser Seelenleben beeinflussen, zum Beispiel GABA (Gamma-Aminobuttersäure) mit ihrer beruhigenden Funktion.

Wie können Sie Betroffenen am besten helfen?

Letztendlich dreht sich in der Beratung vieles um die Wahl der Lebensmittel, die zum einen den Darm rein mechanisch in Schwung halten. Denn er ist ein Muskel, der bewegt werden will. Zum anderen geht es um Nahrungsmittel, welche die guten Bakterien im Darm füttern und stärken, so dass sie sich wohlfühlen, günstige Stoffe produzieren und sich vermehren, um eine stabile Vorherrschaft zu übernehmen. In beiden Fällen geht es um die große Gruppe der Ballaststoffe.

Wichtig sind aber auch die sekundären Pflanzenstoffe, die zum Beispiel antientzündlich und krebshemmend wirken, ebenso wie die richtigen Fette, wie die antientzündlichen Omega-3-Fettsäuren. Fermentierte Lebensmittel sind ebenfalls eine wertvolle Bereicherung des Speiseplans; nicht zu vergessen die Bitterstoffe, die die Verdauungssäfte anregen. All das verpacke ich in alltagstaugliche Empfehlungen, gerne mahlzeitenorientiert und mit vielen schnellen und einfachen Rezepten. Der Tagesablauf und das Umfeld werden berücksichtigt, so dass für meine Klient:innen ganz individuelle Empfehlungen entstehen.

Wo sind die Grenzen einer ernährungstherapeutischen Beratung?

Im Idealfall arbeiten Ernährungstherapeut:innen mit der behandelnden Ärztin bzw. Arzt eng zusammen, die bzw. der die Ernährungstherapie verordnet hat. Ich bitte immer darum, mir aktuelle Blutwerte mitzuteilen. Berichten Klient:innen von blutigen und schleimigen Stuhl, so ist die Ärztin oder der Arzt hinzuzuziehen. Sobald ich merke, dass gravierende psychische Probleme die Symptomatik verursachen, ist zusätzlich eine psychotherapeutische Maßnahme erforderlich. Ganz wichtig ist mir, dass ich die Klient:innen einen Teil des Weges begleite und keine dauerhafte Abhängigkeit erzeuge. Das heißt, Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe.

Sie bieten für die UGB-Akademie zusammen mit Dr. Sabine Poschwatta-Rupp eine Fortbildung zur Ernährungstherapie bei Magen- und Darmerkrankungen an. Welche Inhalte werden dort vermittelt?

Es handelt sich um eine Online-Fortbildung an sechs Nachmittagen. Sie richtet sich an Fachleute mit ernährungstherapeutischer Ausrichtung, also an Diätassistent:innen und Ernährungswissenschaftler:innen bzw. Oecotrophologen:innen. Dr. Poschwatta-Rupp geht fachlich in die Tiefe: Darmmikrobiom, Darm-Hirn-Achse und der Darm als Immunorgan werden wissenschaftlich betrachtet. Hinzu kommen Pathogenese und Pathophysiologie gastroenterologischer Erkrankungen wie Gastroenteritis, Obstipation, Diarrhoe, Divertikulose, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn und Reizdarm.

Seminartipp

Im Seminar Ernährungstherapie bei Magen- und Darmerkrankungen vermitteln Eva Hennes und Dr. Sabine Poschwatta-Rupp Fachkräften auf Basis bewährter Beratungsstrategien und -erfahrungen ernährungstherapeutische Maßnahmen bei ausgewählten gastroenterologischen Beschwerden und Erkrankungen. Praxiseinheiten geben Einblick in die Küchenpraxis im Rahmen der Ernährungstherapie.

Programm + Termine
6 Termine, jeweils halbtags

Meine Aufgabe ist es, Ideen für die Umsetzung im Beratungsalltag zu vermitteln. Ich zeige, wie ich mit meinen Klient:innen das Thema praktisch angehe, um das Wissen um die darmgesunde Ernährung im Essalltag umsetzen zu können. Oft beobachte ich, dass Kolleg:innen viel Wissen mitbringen, es aber ebenso wenig wie Klient:innen in die Praxis umsetzen können. Theorie und Praxis sind in dieser Fortbildung deshalb ausgewogen kombiniert. Das Fundament ist die Vollwert-Ernährung. Wer hier im Thema ist, hält den Schlüssel für die darmgesunde Ernährungstherapie bereits in der Hand.

Ein anderes Fortbildungsseminar beim UGB heißt „Endlich Ruhe im Darm!“. An wen richtet sich das?

Es ist ein Präsenzseminar im schönen Bringhausen am Edersee. Hier darf jede:r teilnehmen, Fachkräfte und Nicht-Fachleute. Willkommen ist, wer sich für die eigene Darmgesundheit, aber auch die der Klient:innen interessiert, etwas verändern und in die Umsetzung kommen möchte; alle, für die es wertvoll ist, darmgesunde vollwertige Rezepte zuzubereiten und zu schmecken, die eventuell sogar einen empfindlichen Darm haben.

Gemeinsam mit UGB-Dozentin Elke Männle vermitteln wir gut verständlich Wissenswertes rund um den Darm: Von der Ernährung und Darmmikrobiota über Darmbarriere und Bauchhirn bis hin zu Stuhlbefund und Probiotika. Praktisch wird es beim gemeinsamen Zubereiten darmgesunder, ballaststoffreicher und bekömmlicher Gerichte und der Fermentation von Gemüse in der Lehrküche. Eine bewehrte Form der Darmsanierung mit anschließendem Kostaufbau wird praxisnah vorgestellt. Die Teilnehmer:innen können an dem Wochenendseminar Guttuendes für den Darm wie Darmmassage, Bauchyoga und natürliche Hilfsmittel bei Beschwerden ausprobieren. Kleine Inseln der Ruhe und Achtsamkeit runden das Seminar rund um den gestressten Darm ab. Die Devise lautet: lernen, erfahren, probieren, entschleunigen. Das nächste Seminar findet vom 4.-6. Oktober in Bringhausen statt.

Haben Menschen, die auf eine vollwertige Ernährung umstellen, besonders Probleme mit dem Darm?

Ja, und genau dort setzt das Seminar „Endlich Ruhe im Darm!“ an. Menschen, die beginnen, sich gesünder zu ernähren mit Gemüse als Rohkost, Vollkorngetreide und Hülsenfrüchten können Darmprobleme wie Völlegefühl und Blähungen entwickeln. Weil das oft unangenehm ist, kehren sie schnell zum alten Essverhalten zurück. Wir erklären den Zusammenhang und wie man den Darm schrittweise an eine darmgesunde Essweise gewöhnen kann. Wir nennen es Bezugsaufbau zwischen Darm und ballaststoffreichem Essen.

Theorie ist wichtig. Aber Sie gehen mit Seminarteilnehmer:innen immer auch in die Lehrküche. Warum?

„Der Weg zu Gesundheit und Wohlbefinden führt durch die Küche“, wusste schon Sebastian Kneipp. Natürlich ist die Vermittlung von Ernährungsfakten Bestandteil einer Schulung oder Beratung. In den meisten Fällen hapert es aber an der Fähigkeit der Umsetzung. So kommen die Teilnehmer:innen nicht vom Wissen der darmgesunden Ernährung in den darmgesunden Essalltag. Oft fehlt es an küchentechnischen Fähigkeiten, Ideen oder an Motivation, Zeit in der Küche zu verbringen. Auch in der Einzelberatung wechsele ich nicht selten schon nach zehn Minuten vom Beratungsraum in die Küche und bereite gemeinsam mit den Klient:innen Kleinigkeiten zu. Gemeinsames Kochen und Essen inspiriert mehr als jede Theorie.

Liebe Frau Hennes, vielen Dank für das spannende Interview.

Bild © Eva Hennes

Stichworte: Darmgesundheit, Darmerkrankungen, Verdauungsprobleme, Darmprobleme, Unverträglichkeit, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Verdauungsstörungen, Vollwerternährung, Interview


Kranker Darm — was tun? Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 4/2024
Kranker Darm — was tun?


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