Lipödem: Ein oft verkanntes Krankheitsbild
„Iss weniger und beweg Dich mehr!“ Ein Satz, den an Lipödem Leidende nur allzu häufig hören. Denn viele sehen im Lipödem eine Alibierkrankung für faule, gewichtige Frauen. Doch die Krankheit existiert – das ist inzwischen wissenschaftlich untermauert. Etwa jede zehnte Frau ist betroffen.
Bleischwere Beine, permanente Schmerzen, eine unproportionale Fettverteilung und viele blaue Flecken: Das sind die häufigsten Symptome, die mit dem Lipödem einhergehen. Leitsymptom ist immer der Schmerz. Daher sei gleich an dieser Stelle betont: Das Lipödem ist eine Schmerzerkrankung, die mit einer Fettverteilungsstörung einhergeht. Von außen werden nur die Fettpolster gesehen, der Schmerz ist unsichtbar. Aber genau das ist es, was die Betroffenen zusammen mit dem Schweregefühl der Extremitäten oft stark einschränkt und zermürbt.
Das Lipödem ist eine Erkrankung des subkutanen Fettgewebes und tritt vorwiegend an Beinen, Hüften, Gesäß und auch an den Armen auf. Es betrifft fast ausschließlich Frauen – auch schlanke. Die chronische Fettverteilungsstörung geht also nicht automatisch mit Übergewicht einher. Die Lipödem-Areale zeigen sich diät- und sportresistent und lassen sich dadurch weder verkleinern noch vermindern. Die betroffenen Stellen sind oft druckempfindlich und können im Tagesverlauf ein zunehmendes Spannungsgefühl erzeugen. Beine und Arme fühlen sich schon bei alltäglichen Bewegungen und Tätigkeiten sehr schwer an und schon kleine Wegsteigungen lassen die Muskeln brennen und führen zu Kurzatmigkeit.
Oft langer Leidensweg bis zur Diagnose
Der Weg zur Diagnose eines Lipödems ist oft langwierig. Viele Betroffene irren Jahre bis Jahrzehnte mit ihrer Symptomatik umher, bis endlich die Diagnose gestellt und eine Therapie begonnen werden kann. Oftmals verwechseln Ärzt:innen die Erkrankung mit Adipositas oder Lymphödemen. Dabei lassen sich die Erkrankungen in der Regel gut voneinander abgrenzen. Schwierig wird es, wenn starkes Übergewicht vorliegt, da die unproportionale Fettverteilung dann durchaus überlagert sein kann. Druckempfindlichkeit und Schmerzen verursacht aber ausschließlich das Lipödem.
Erfahrene Ärzt:innen, oft mit der Fachrichtung Phlebologie oder Lymphologie, können durch eine gründliche körperliche Untersuchung und das Ausschlussprinzip die Diagnose stellen. Dennoch gibt es bisher weder Laborparameter noch Untersuchungsformen, die klar zwischen Adipositas und Lipödem unterscheiden können. Hoffnung kommt jetzt aus dem Universitätsklinikum Köln: Hier hat die Arbeitsgruppe um den Schmerzforscher Prof. Dr. Tim Hucho ein neues Diagnosetool entwickelt, das die rein subjektiven Berichte von Patienten:innen durch objektive Messungen ergänzt. So identifizierte der sogenannte PVTH-Score (Pressure Pain Threshold and Vibration Detection Threshold) in über 95 Prozent der Fälle Lipödem-Patient:innen korrekt. Der Score basiert auf der Messung von Schmerzempfindlichkeit bei Druck und der Fähigkeit, Vibrationen zu spüren. Das Tool könnte die Diagnose des Lipödems deutlich erleichtern, indem es klare, messbare Unterschiede zu Menschen mit gesundem Fettgewebe zeigt.
Ursache für Lipödem noch unklar
Die genaue Ursache der Fettverteilungsstörung und die zugrunde liegenden Pathomechanismen sind bisher nur unzureichend erforscht. Derzeit wird vermutet, dass das Lipödem eine multifaktorielle Erkrankung ist. Neben Umweltfaktoren wie Ernährung und Lebensstil spielen wahrscheinlich hormonelle Einflüsse eine Schlüsselrolle. Denn besonders häufig tritt die Krankheit oder Krankheitsschübe während hormoneller Umstellungsphasen wie Pubertät, Schwangerschaft oder den Wechseljahren in Erscheinung. Darüber hinaus besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass das Lipödem eine genetische Komponente hat, da es oft familiär gehäuft zu finden ist.
Die bisher bekannten Pathomechanismen des Lipödems sind komplex und umfassen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen – von der Dysfunktion der Fettzellen über chronische Entzündungsprozesse bis hin zu Störungen des Lymphsystems und des Bindegewebes. So sind die Fettzellen (Adipozyten) im betroffenen Gewebe oft vergrößert und vermehrt. Sie speichern zudem mehr Fett und setzen Entzündungsmediatoren wie TNF-Alpha und IL-6 frei, die zu chronischen Entzündungsprozessen im Gewebe beitragen. Vermutet wird außerdem ein verändertes Verhalten der Adipozyten. Auslöser könnten Hormone sein wie Östrogen, Insulin und Cortisol sowie Immunzellen (Makrophagen), die das Lipödemgewebe vermehrt infiltrieren. Das könnte ein unkontrolliertes Wachstum der Adipozyten fördern und Entzündungen anheizen.
Vermutlich sind zudem die Kapillarwände bei Patienten:innen mit Lipödem durchlässiger als normal. Das führt zu einem vermehrten Austritt von Flüssigkeit und Blut in das Gewebe und wird durch blaue Flecken sichtbar. Diese erhöhte Durchlässigkeit könnte zusätzlich das Lymphsystem belasten und die Ödembildung begünstigen. Darüber hinaus übt auch das veränderte Fettgewebe mit seinen stark vergrößerten und vermehrten Fettzellen Druck auf die Lymphgefäße aus. Das behindert den Abfluss der Lymphflüssigkeit und kann ebenso zur Bildung von Ödemen führen. Dies erklärt, warum Betroffene am Ende des Tages vermehrt Spannungsschmerzen in den Beinen wahrnehmen.
Mit zunehmendem Krankheitsverlauf verhärtet das Bindegewebe (Fibrosierung) und die Fettzellen verkapseln sich. Das Gewebe wird fester und weniger elastisch, was Schmerzen verstärken, Bewegung einschränken und die Gewichtsabnahme erschweren kann. Trotz dieser Erkenntnisse ist die exakte Ursache noch immer wenig verstanden, was die Entwicklung effektiver Therapien erschwert.
Selbstmanagement: das A und O in der Therapie
Betroffene können selbst dazu beitragen, der Krankheit Einhalt zu gebieten und den Schmerzen entgegenzuwirken. Selbstmanagement ist extrem wichtig. Dazu gehören neben der Kompressionstherapie ein gutes Bewegungs-, Ernährungs- und Stressmanagement. Auch wenn mit Sicherheit niemand begeistert ist, täglich Kompressionsstrumpfhosen (Flachstrickstrümpfe) zu tragen: Der Einsatz von Kompression beim Lipödem hilft gegen die Schmerzen und scheint Zellfunktion und Stoffwechsel des Fettgewebes positiv zu beeinflussen. Zudem regt der äußere Druck die Lymphzirkulation an und erleichtert den Abtransport von Flüssigkeiten und Stoffwechselabfällen, was das Gewebe entlastet. Der Einsatz von manueller Lymphdrainage mit tiefer Gewebsmassage kann den Lymphfluss zusätzlich anregen und den Schmerz reduzieren. Das ist aber nur sinnvoll, wenn die Kompressionsversorgung regelmäßig angewendet wird.
Auch körperliche Aktivität ist trotz Schmerzen und bleierner Schwere in den Beinen aus vielerlei Hinsicht unerlässlich. Jede zusätzliche Bewegung, die eine Lipödempatientin macht, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das können Spazierengehen auf der Stelle, Schwimmen, Tanzen oder gymnastische Übungen sein. Nur so lässt sich der normale interstitielle Flüssigkeitsdruck und damit gesundes Gewebe aufrechterhalten. Die durch körperliche Aktivität angeregte Durchblutung hilft entzündungsfördernde Substanzen abzutransportieren und Nährstoffe sowie Sauerstoff ins Gewebe zu liefern. Außerdem sorgt der gesteigerte Blutfluss für einen guten Lymphfluss. Bewegung verbessert zudem die Insulinsensitivität und fördert die Freisetzung entzündungshemmender Substanzen wie Adrenalin und Noradrenalin. Last but not least unterstützt Bewegung das Gewichtsmanagement.
Ernährung bei Lipödem: Mythen und Fakten
Antworten auf die Frage nach der richtigen Ernährung bei Lipödem liefern die sozialen Medien zuhauf: Die Sammlung reicht von Intervallfasten über Low-Carb und ketogener Diät bis zum Verzicht auf Milchprodukte, Weizen oder Gluten. Lipödem-Foren sind voll von solchen extremen Ernährungsempfehlungen, die in aller Regel von Laien an Laien gegeben werden. Und leider greifen sehr häufig auch die behandelnden Ärzt:innen diese Empfehlungen auf. Betroffene begeben sich dadurch nicht nur in immer einseitigere Ernährungsregime mit der Gefahr einer Mangelversorgung. Sie werden auch immer schuldgetriebener und beschämter, weil sie die eingeschränkte Ernährung nicht durchhalten, aber suggeriert bekommen, dass sie nur so ihrem Lipödem Einhalt gebieten könnten. Das baut einen enormen Druck auf und verringert das bei Lipödem oft schon deutlich eingeschränkte Selbstwertgefühl und die Lebensqualität. Nicht selten fördert es den Eintritt in massive Essstörungen.
Vor allem die ketogene Ernährung erfreut sich bei den populären Empfehlungen großer Beliebtheit. Grund hierfür ist aber nicht, dass diese Ernährungsform wissenschaftlich gesehen klar die Nase vorne hat. Es liegt ausschließlich daran, dass es die Einzige ist, die im Bezug auf das Lipödem bislang ansatzweise erforscht wird. Die meisten Studien darüber untersuchten allerdings nur sehr kleine Gruppen mit fragwürdigen Konzepten und Schlussfolgerungen.
Antientzündliche Ernährung kann helfen
Wenn die aktuelle wissenschaftliche Studienlage zum Lipödem überhaupt irgendeine speziellere Ableitung im Bereich Ernährungsmanagement zulässt, dann ist es die Empfehlung hin zu einer antientzündlichen Ernährung. Hier bieten vor allem die mediterrane und die in weiten Teilen übereinstimmende Vollwert-Ernährung die besten Möglichkeiten. Sie sind deutlich vielseitiger, alltags-, familien- und gesellschaftstauglicher als eine Ernährung weitestgehend ohne Kohlenhydrate. Sie basieren auf viel frischem Gemüse, Obst, guten Pflanzenölen, Nüssen, Hülsenfrüchten und Fisch sowie einem moderaten Konsum von Milchprodukten, Geflügel und Eiern sowie dem sparsamem Verzehr von rotem Fleisch. Alkohol und stark verarbeitete Lebensmittel, die reich an Zucker, Fetten und raffinierten Kohlenhydraten sind, sollten in der Ernährung von Patient:innen mit Lipödem aufgrund ihrer entzündungsfördernden Wirkung keine große Rolle spielen.
Verringerter Energiebedarf
Betroffene sollten darüber hinaus ihre tägliche Kalorienzufuhr im Auge behalten. Schon vor über 70 Jahren erkannten die Entdecker des Lipödems, die US-amerikanischen Mediziner Allen, Hines und Wold, dass der Grundumsatz bei Betroffenen um etwa 20 Prozent niedriger liegt als normal. Neuere Studien bestätigen dies. Alle Studien, die den Energiebedarf der Proband:innen gemessen haben, kommen auf niedrige Tagesenergiebedarfswerte zwischen 1200 und 1550 Kilokalorien. Dem Thema Kalorienmanagement kommt also eine wichtige Rolle zu. Dabei geht es beim Lipödem keinesfalls allein um eine Fokussierung auf das Verhältnis der Makronährstoffe zueinander. So sind Ess- und Trinkverhalten sowie Portionsgrößen und Mengenregulierung viel entscheidendere Faktoren.
Wer die eigene Trinkmenge und Getränkeauswahl optimiert, gemüsebetont isst, gut kaut und sich Zeit zum Essen nimmt, hat schon viel gewonnen. Jede Lipödem-Betroffene tut gut daran, sich tiefgreifend mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen und sich optimalerweise eine erfahrene Ernährungsfachkraft an die Seite zu holen – erst recht, wenn das Gewicht zu hoch ist. Denn neben dem Lipödemgewebe existiert auch immer noch normales gesundes Fett; und das kann die Betroffene auch trotz Lipödem wieder abnehmen – auch wenn es mit zunehmendem Alter, Stadium und Bewegungseinschränkung schwerer und langsamer geht.
Mit Therapieansätzen die Lebensqualität steigern
Nach derzeitigem wissenschaftlichem Stand bleibt es dabei: Dem Lipödem-Fett kann weder mit Diät, extremen Ernährungsregimen noch mit übermäßigem Sport zu Leibe gerückt werden. Auch der Krankheitsverlauf lässt sich nicht vorhersehen. Dem Selbstmanagement – von Kompressionsversorgung und Lymphdrainage über eine individuelle und bedarfsgerechte Ernährung bis hin zu verträglichen Bewegungsformen – kommt dennoch eine elementare Bedeutung zu. Denn Schmerzen, Beweglichkeit und Entzündungsgeschehen sind dadurch sehr positiv zu beeinflussen.
Klar ist aber auch, dass der Erfolg dieser Maßnahmen seine Grenzen hat. Verschlechtert sich das Lipödem oder das Gewicht, ist das nicht gleichzusetzen mit mangelnder Mitarbeit oder falschem Verhalten der Betroffenen. Letztendlich muss eines immer klar sein: Das Lipödem ist eine chronische und multifaktorielle Erkrankung, die auch beim besten Selbstmanagement eigene Wege gehen kann.
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Stichworte: Lipödem, Fettverteilungsstörung, Ernährungstherapie, Adipositas, Schmerzerkrankung, Chronische Erkrankung, antientzündliche Ernährung, Lymphdrainage, Übergewicht, Ödem, Lymphstau
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