Pro & Kontra: Expertenstreit um Vitamin D
Experten streiten sich darum, ob wir ausreichend mit Vitamin D versorgt sind. Da natürliche Lebensmittel kaum zur Versorgung beitragen können, empfehlen inzwischen viele Ernährungswissenschaftler, zumindest in den Wintermonaten Vitamin D in Form von Präparaten zu ergänzen.
>> PRO >> KONTRA
PRO
Prof. Armin Zittermann
Vitamin D ist eine für den Menschen lebensnotwendige Substanz. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation des Calcium- und Phosphathaushalts und somit für die Knochengesundheit. Neuere Studien zeigen aber auch eine Reihe sogenannter nicht-klassischer Wirkungen. So ist das Vitamin an der Funktion des Immunsystems, dem Insulinhaushalt sowie der Zelldifferenzierung und dem planmäßigen Niedergang von Zellen (Apoptose) beteiligt.
Erkrankungen durch Unterversorgung
Meta-Analysen zur Wirkung von Vitamin-D-Supplementen bei Personen, die mit Vitamin D unterversorgt waren, ergaben positive Effekte. Herangezogen wurden ausschließlich Studien nach dem Goldstandard (randomisiert), in denen die Teilnehmer der Interventionsgruppen nach dem Zufallsprinzip ausgesucht wurden. So reduzierte die Vitamin-D-Gabe Infekte der oberen Atemwege, die Nüchtern-Blutglucose- und HA1c-Werte von Typ-2-Diabetikern und im Alter (gemeinsam mit einer adäquaten Calciumversorgung) das Risiko osteoporotischer Frakturen. Mendelsche Randomisierungsstudien, die falsche Schlussfolgerungen und Störfaktoren kontrollieren, deuten zudem darauf hin, dass Vitamin D das Risiko für Multiple Sklerose und für ein frühzeitiges Versterben reduziert.
Ziel sollte es sein, nicht nur einen ausgeprägten Nährstoffmangel zu verhindern. Vielmehr sollten auch frühzeitig unerwünschte biochemisch funktionelle Veränderungen vermieden und ausreichende Körperdepots gewährleistet werden. Eine unzureichende Nährstoffversorgung ruft teilweise erst nach Jahren und erst bei sehr großen Gruppen von mehreren 10.000 Personen statistisch nachweisbare Beschwerden hervor. Dabei ist eine unzureichende Versorgungslage gerade im Falle von Vitamin D von großer sozialmedizinischer Bedeutung. Denn Infekte, Frakturen oder frühzeitiger Tod sind häufig vorkommende Ereignisse.
Lebensmittel können Bedarf nicht decken
Vitamin D nimmt unter den Vitaminen eine Sonderstellung ein. Denn neben der Zufuhr mit der Nahrung trägt auch die Synthese in der Haut unter Einfluss der UVB-Strahlung der Sonne zur Versorgung bei. Beide Quellen sind jedoch sehr unsicher. Nur wenige Lebensmittel enthalten nennenswerte Vitamin-D-Mengen und die UVB-Strahlung der Sonne ist im Winterhalbjahr in Mitteleuropa weitgehend zu vernachlässigen. Risikogruppen für einen Vitamin- D-Mangel sind Säuglinge, da sie nicht der direkten Sonne ausgesetzt werden sollten, sowie chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen, die sich nicht im Freien aufhalten können. Menschen mit dunkler Hautfarbe sind in unseren Breiten ebenfalls gefährdet, weil ein hoher Gehalt an Melanin in der Haut die Vitamin-D-Bildung in der Haut einschränkt. Auch Menschen, die aus religiösen oder kulturellen Gründen nur mit gänzlich bedecktem Körper nach draußen gehen, sowie Personen, die sich tagsüber kaum oder gar nicht im Freien aufhalten wie Büroarbeiter oder Verkäufer, gehören zu den Risikogruppen.
Die Vitamin-D-Zufuhr mit der Nahrung beträgt im Mittel nur 2,2 bis 2,9 µg/Tag. Hinzu kommt, dass eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung über die Haut zumindest zwischen Herbst und Frühjahr bei einem Großteil der Allgemeinbevölkerung nicht gewährleistet ist. Das zeigen Berechnungen sowohl für den Nordosten der USA als auch in den Niederlanden (siehe Tabelle). Es ist davon auszugehen, dass diese Werte auf die Situation in Deutschland übertragbar sind.
Standardmäßig wird das 25-Hydroxyvitamin D als Indikator für die Versorgungslage gemessen. Messwerte unter 30 Nanomol pro Liter (nmol/l) werden als defizitär klassifiziert, da sie mit einem erhöhten Risiko für Erkrankungen einhergehen. Von einer guten Vitamin-D-Versorgung sprechen die europäischen und nordamerikanischen Ernährungsgesellschaften, wenn die Blutkonzentration dieses Markers mindestens 50 nmol/l beträgt. In Deutschland weisen nach repräsentativen Erhebungen rund 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung Blutspiegel im defizitären Bereich auf, mit deutlichen saisonalen Unterschieden. Während es im Sommer nur 10 Prozent sind, steigt die Unterversorgung im Winter auf 40 Prozent in Süddeutschland bis 60 Prozent in Norddeutschland.
Supplementierung sicher und unverzichtbar
Für die genannten Risikogruppen wäre die Empfehlung eines vermehrten Aufenthalts im Freien nicht zielführend. Hinzu kommt, dass die UVB-Strahlung eine kanzerogene Strahlung ist. Dagegen hat sich die tägliche Gabe von Vitamin-D-Supplementen bereits seit Jahrzehnten zur Rachitisprophylaxe von Säuglingen bewährt. Für adäquate Vitamin-D-Spiegel empfehlen die Ernährungsgesellschaften von Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH) bei fehlender endogener – also körpereigener – Synthese die tägliche Aufnahme von 20 µg (800 IE) Vitamin D. Dies ist auch die Höchstmenge, die bei Supplementen zugelassen ist. Wer sich an diese Empfehlung hält, ist weit von der tolerierbaren Höchstmenge von 100 µg entfernt, die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) als unbedenklich angesehen wird.
Die Gefahr einer Überdosierung an Vitamin D besteht lediglich im Rahmen einer Selbstmedikation oberhalb dieser Höchstmenge. Vom Kauf hoch dosierter Vitamin-D-Präparate über das Internet ist deshalb abzuraten. Kritisch kann es auch werden, wenn Therapiemaßnahmen von Ärzten oder Heilpraktikern mit hoch dosiertem Vitamin D durchgeführt werden, ohne dass entsprechende wissenschaftliche Evidenz hierfür vorliegt.
Im Winter oder für Menschen, die sich nicht ausreichend in der Sonne aufhalten, stellt die tägliche Einnahme eines Supplements in Höhe von 15-20 µg eine wichtige individuelle Möglichkeit zur Optimierung der Vitamin-D-Versorgung dar.
KONTRA
Prof. Helmut Schatz
Die Messungen des Vitamin-D-Spiegels nehmen stetig zu, ebenso der Verkauf von Präparaten. Ist dies gerechtfertigt? Soll die gesamte deutsche Bevölkerung eine Vitamin-D-Supplementierung erhalten? Bevor Empfehlungen ausgesprochen werden, die weiten Bevölkerungsteilen eine Ergänzung nahe legen, bedarf es jedoch eindeutiger und gesicherter Studien.
In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich vor allem der US-amerikanische Biochemiker Hector F. De Luca um die Erforschung des Vitamin-D-Stoffwechsels verdient gemacht. Es wurden Vitamin-D-Rezeptoren in vielen Zellen und Geweben des menschlichen Körpers nachgewiesen. Dies legt zusammen mit Befunden über einen niedrigen Vitamin-D-Blutspiegel den Verdacht nahe, dass zumindest viele dieser Organe durch Anheben des Vitamin-D-Spiegels geschützt oder deren Erkrankungen durch eine zusätzliche Gabe gebessert oder geheilt werden könnten.
Unstrittig ist die Gabe von Vitamin D an Neugeborene im ersten Lebensjahr zur Rachitisprophylaxe. Auch bei Osteomalazie (Knochenerweichung) infolge einer Calcium-Resorptionsstörung bei Magen-Darm-Erkrankungen ist eine Vitamin-D-Gabe angezeigt. Sinnvoll ist sie ebenso bei Knochenerkrankungen (Osteopathie) durch eine chronische Funktionsstörung der Nieren sowie bei einer gestörten Funktion der Nebenschilddrüsen (primärer Hypoparathyreoidismus). Ferner dient Vitamin D zur Basistherapie bei primärer Osteoporose, wenngleich diese Indikation aktuell kritisch hinterfragt wird. Auch zur Vorbeugung von Knochenabbau und Frakturen bei älteren und alten Menschen wird es breit eingesetzt.
Mangel die Ursache der Erkrankung oder Folge?
Die Zahl der Studien über die Zusammenhänge von Erkrankungen und Vitamin-D-Status ging in den letzten Jahren fast sprunghaft in die Höhe. Gleichzeitig lassen mehr und mehr Menschen ihre Vitamin-D-Werte im Blut bestimmen und greifen häufiger zu Nahrungsergänzungsmitteln. Tatsächlich findet man heute zuhauf Hinweise auf Zusammenhänge zwischen dem Vitamin-D-Spiegel und Erkrankungen oder Symptomen. Aus Beobachtungsstudien, epidemiologischen, Querschnitts-, Kohorten- und auch kleineren randomisiert-kontrollierten Untersuchungen von geringer Qualität gehen sowohl positive als auch negative Ergebnisse hervor. Solche Studien können aber keine Kausalität beweisen. Vielmehr besteht eher ein umgekehrter Zusammenhang: Niedrige Vitamin-D-Spiegel könnten die Folge einer Erkrankung und nicht deren Ursache sein.
Wann besteht überhaupt ein Mangel?
Den Begriff „Vitamin-D-Mangel“ lehne ich für Werte ab, die unterhalb der von vielen Laboren unterschiedlich definierten Normbereiche von etwa 50 nmol/l (30 ng/ml) liegen. Denn wo liegt der Referenzbereich für dieses Pro-Hormon? Darüber sind sich selbst renommierte Fachinstitutionen nicht einig. Die US-amerikanische Endocrine Society fordert als untersten Grenzwert 75 nmol/l. Das Institute of Medicine (IOM), jetzt National Academy of Medicine, sieht ihn bei 50 nmol/l. Während die einen Wissenschaftler Werte unter 50 nmol/l bereits als einen behandlungswürdigen Mangel (deficiency) bewerten, sieht das Robert Koch-Institut zwischen 25 und 50 nmol/l (10-20 ng/ml) lediglich eine „suboptimale Vitamin-D-Versorgung“. Einig ist man sich nur über einen untersten Grenzwert von etwa 30 nmol/l. Aber selbst bei Werten darunter, also dann wohl einem echten „Vitamin-D-Mangel“, sah ich in meiner Praxis Patienten, die keinerlei Beschwerden oder Krankheitssymptome aufwiesen. Was natürlich nicht bedeutet, dass sie bei Fortbestehen nicht später einmal Symptome bekommen könnten.
Kaum ausreichende Belege für präventive Effekte
Am 25. Oktober 2017 erschien eine sorgfältige, detaillierte und umfangreiche Arbeit von Wissenschaftlern am Internationalen Institut für Präventionsforschung in Lyon über den Effekt einer Vitamin-D-Zufuhr auf nicht-skelettale Erkrankungen. In ihrer systematischen Übersicht schlossen die Autoren von 87 Meta-Analysen randomisierter Studien 52 auf Grund von mangelnder Qualität oder fehlender Berücksichtigung aktueller Daten aus. Zusätzlich zogen sie 202 randomisierte Studien neueren Datums heran, die in den Meta-Analysen noch nicht berücksichtigt worden waren. Nach dieser Datenanalyse senkte die Gabe von 10-20 Mikrogramm (400-800 IE) Vitamin D pro Tag die Gesamt- und die Krebssterblichkeit um 3 bzw. 12 Prozent bei Menschen mittleren und höheren Lebensalters. Es konnte jedoch kein Hinweis gefunden werden, dass eine zusätzliche Vitamin-D-Zufuhr einen Effekt auf die meisten nicht-skelettalen Erkrankungen bewirkt. Dazu zählen kardiovaskuläre Erkrankungen, Adipositas, Diabetes, Gemütsstörungen, Muskelfunktion, Tuberkulose, kolorektale Adenome oder mütterliche/perinatale Störungen.
Die Zusammenschau aus 83 Studien ergab in der gleichen Übersichtsarbeit keinen Hinweis auf einen signifikanten Effekt von Vitamin D auf Biomarker einer systemischen Entzündung (Inflammation). Neu war jedoch, dass Vitamin D helfen könnte, akute Atemwegsinfekte und Asthma- Verschlechterungen zu verhindern. Ansonsten gab es kaum Beweise (Evidenz), dass Vitamin-D-Gaben einen Effekt auf andere Erkrankungen einschließlich chronischer Entzündungen haben könnten. Dies stützt nach Einschätzung der Wissenschaftler die Hypothese, dass ein niedriger Vitamin-D-Status eher die Folge und nicht Ursache dieser Störungen ist.
Weitere Studienergebnisse sind abzuwarten
Die Übersicht der Präventionsforscher aus Lyon ist bis heute die umfassendste Arbeit zu diesem Thema. Weitere Aufschlüsse sind von der vom Institute of Medicine (IOM) initiierten, randomisiert-prospektiven VITAL-Studie an über 20.000 Personen in den USA sowie weiterer großer, bereits laufender Studien wie etwa in Australien zu erwarten.
Die bislang vorliegenden wissenschaftlichen Befunde erlauben aus meiner Sicht keine Empfehlungen zur Supplementierung von Vitamin D für die Gesamtbevölkerung. Vor gesundheitspolitischen Entscheidungen und weiteren klinischen Schlussfolgerungen über den Einsatz von Vitamin D sollten die Ergebnisse der laufenden Studien abgewartet werden.
Quelle: Zittermann A, Schatz H, UGBforum 2/18, S. 64-67
Bild © katemlk/123RF.de
Stichworte: Vitamin D, Immunsystem, Knochengesundheit, Nahrungsergänzungen, Supplemente
Den vollständigen Beitrag lesen Sie in:
UGBforum 2/2018
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