Nährstoffempfehlungen: Auf der Suche nach der optimalen Dosis

Der klassische Ansatz der Empfehlungen zur Nährstoffzufuhr zielt(e) darauf ab, einen Mangel zu vermeiden. Im Gegensatz dazu berücksichtigt der moderne Ansatz langfristige Effekte der Nährstoffaufnahme, um das Risiko für chronische Erkrankungen zu minimieren. Wie hoch ist die richtige Dosis und was bedeutet das für die Praxis?

„Krankheitsvorbeugung“, so die Devise der Präventivmedizin, „ist die beste Form der Therapie“. Gemäß diesem Motto konsumieren viele Menschen eine Extraportion Vitamine mit dem Wunsch nach langfristiger Gesundheit. Hauptmotiv für die Supplementierung von Nährstoffpräparaten ist dementsprechend weniger ein Ausgleich für eine unausgewogene Ernährung, sondern vielmehr der Schutz vor Krankheiten. Doch gerade der präventive Anspruch verbunden mit der Frage, welche Zufuhrmenge an Mikronährstoffen hierfür notwendig ist, führt mitunter zu polarisierenden und interessenspolitisch befeuerten Auseinandersetzungen. Es stellt sich die Frage, wie die unterschiedlichen Empfehlungen zur Höhe einer präventiven Mikronährstoffzufuhr zu erklären sind.

Widersprüchliche Meldungen verunsichern

Im Umkreis der Vitaminforschung scheint kein Studienergebnis zu existieren, dem nicht ein anderes widerspricht: „Multivitamine senken das kardiovaskuläre Risiko“ kontra „die Einnahme der Präparate geht mit einem erhöhten Erkrankungs- und Sterberisiko einher“. Selbst die Aussagen von Fachgesellschaften und universitären Forschungseinrichtungen weichen teilweise voneinander ab. Gänzlich widersprüchlich wird die Situation durch die wortreichen Meldungen von selbsternannten Experten. Zahlreiche populärwissenschaftliche Veröffentlichungen komplettieren die Verwirrung vollends. Am Ende steht der verunsicherte Verbraucher und erwartet vom Ernährungsberater, Arzt oder Apotheker ein klares Statement: „Nahrungsergänzung zur Primärprävention – Sinn oder Unsinn?“

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat 1955 die ersten offiziellen Ernährungsempfehlungen publiziert. Ziel der Empfehlungen war es in erster Linie, die gesunde Bevölkerung ausreichend mit Nährstoffen zu versorgen. Wobei ausreichend mit „schützt vor einem nährstoffbedingten Defizit“ zu übersetzen ist. Es sollte bis in die 1990er Jahre dauern, bis ein erweiterter, präventiver Ansatz Eingang in offizielle Ernährungsempfehlungen fand. Bildete bislang das Kriterium „Vermeidung des an klinisch messbaren Veränderungen feststellbaren Mangels“ die Grundlage von Zufuhrempfehlungen, so lauten die neuen Zielparameter: Langfristiger Erhalt der Gesundheit und Verbesserung der Lebensqualität. Mittlerweile haben diese Kriterien auch in die von der DGE erarbeiteten D-A-CH-Referenzwerte Eingang gefunden. So heißt es dort: „In den letzten Jahren mehren sich Hinweise, dass bestimmte Nährstoffe präventive Wirkungen haben, die über die Verhütung von Mangelkrankheiten hinausgehen.“ Entsprechend wurden die nutritiven Empfehlungen stellenweise um „präventive Aspekte von Nährstoffen und Nährstoffempfehlungen“ ergänzt. Grundsätzlich sind also bei Nährstoffempfehlungen zwei konzeptionelle Ansätze zu unterscheiden: der klassische mangelvermeidende und der moderne präventive.

Nährstoffe zur Mangelvermeidung

Der klassische Ansatz folgt einem eindimensionalem Verständnis der Nährstoff-Endpunkt-Beziehung: Das Defizit eines bestimmten Nährstoffs wird mit einer spezifischen, schwerwiegenden Mangelerkrankung in Verbindung gebracht. Bei Vitamin D zum Beispiel sind das Rachitis im Kindes- und Osteomalazie im Erwachsenenalter. Charakteristisch für ein solch klassisches Mangeldenken ist die Vorstellung, dass die unzureichende Zufuhr eines bestimmten Nährstoffs zu einem spezifischen Endpunkt führt. Nach dem klassischen Ansatz ist die adäquate Nährstoffmenge jene, bei der keine spezifischen Mangelerscheinungen auftreten. Meist reichen dafür geringe Mengen aus. Dabei wird unterstellt, dass bei dieser Zufuhr alle physiologischen Funktionen optimal ablaufen. Eine Zufuhr, die diesen Bereich übersteigt, wird dementsprechend als überflüssig angesehen.

Moderner Ansatz berücksichtigt Prävention

Auf einem multidimensionalen Verständnis der Nährstoff-Endpunkt-Beziehung beruht dagegen der moderne Ansatz. Er berücksichtigt die für viele chronische Erkrankungen typische lange Latenzphase. Auch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass eine unzureichende Versorgung mit einem Nährstoff das Risiko für mehrere Erkrankungen steigern kann – bei Vitamin D betrifft das zum Beispiel Osteoporose oder epitheliale Tumoren wie Darmkrebs. Gemäß diesem erweiterten Ansatz ist die adäquate Nährstoffmenge jene, bei der neben der Vermeidung von Mangelerscheinungen das Risiko für chronische Erkrankungen insgesamt minimiert ist. Üblicherweise übersteigt die dafür erforderliche Nährstoffzufuhr den Minimalbedarf um ein Mehrfaches.

Zur Prävention von Osteoporose liegt beispielsweise die erforderliche Vitamin-D-Zufuhr etwa vierfach über der, die zur Vermeidung von Rachitis notwendig ist. Und zur Prävention des Neuralrohrdefekts wird eine zwei- bis vierfach höhere Zufuhr an Folsäure benötigt als zur Vermeidung der megaloblastären Anämie. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Beantwortung der Frage, welcher Mikronährstoff in welcher Höhe zugeführt werden sollte, variiert in Abhängigkeit vom gewählten Zielparameter.

Dosis und Wirkung am Beispiel Vitamin C

Am Beispiel von Vitamin C lassen sich die unterschiedlichen Ansätze besonders gut verdeutlichen. Der in den 1930er Jahren identifizierte Antiskorbut-Faktor dürfte auch zu den am häufigsten supplementierten Vitaminen zählen. Über 110.000 Tonnen, so die Schätzung, werden jährlich weltweit hergestellt. Während die vielfältigen Stoffwechselfunktionen der Ascorbinsäure seit längerem gut charakterisiert sind, ist unklar, welche Vitamin-C-Menge für den Mensch gesundheitlich optimal ist.

Aufgrund seiner antioxidativen Aktivität wird Vitamin C seit längerem mit protektiven Wirkungen in Zusammenhang gebracht. So schützt Vitamin C zum Beispiel LDL-Partikel vor oxidativer Schädigung, verbessert die Gefäßgesundheit (Endothelfunktion), hemmt das Entzündungsgeschehen und entfaltet blutdruckmindernde (hypotone) Effekte. Auch ist unter der Gabe von Vitamin C zu beobachten, dass die Konzentration an einem etablierten Marker für oxidativ geschädigte DNA abnimmt. Die Hypothese, dass Vitamin C das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und Tumorerkrankungen senkt, ist also naheliegend.

Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – haben die internationalen wissenschaftlichen Gremien ihre Probleme mit der Etablierung von Zufuhrempfehlungen für Vitamin C. Denn diese variieren nicht nur im zeitlichen Verlauf; die Referenzwerte unterscheiden sich auch von Nation zu Nation. Während in Großbritannien für Erwachsene eine Zufuhr von 40 mg Vitamin C am Tag empfohlen wird, gilt in Frankreich und Belgien ein Referenzwert von täglich 110 mg. Und in den für die D-A-CH-Länder gültigen „Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr“ wird für gesunde Jugendliche und Erwachsene eine wünschenswerte Dosis von 95 mg für Frauen und 110 mg am Tag für Männer ausgewiesen. Für Raucher werden 135 bzw. 155 mg täglich empfohlen.

Wie lässt sich die Diskrepanz erklären?

Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass es insbesondere unterschiedliche Zielkriterien sind, die zu den divergierenden Empfehlungen geführt haben. Tatsächlich variiert der gesundheitliche Effekt von Vitamin C in Abhängigkeit von der Zufuhr (siehe Abbildung 1). So reicht eine Menge von 10 mg Vitamin C am Tag aus, um die Symptome der klassischen Vitamin-C-Mangelerkrankung Skorbut zu verhüten. Unter Beachtung eines Sicherheitszuschlags leitet sich daraus eine Zufuhr von 30 mg täglich ab. Schreitet man weiter auf der Dosis-Wirkungsleiter fort, so wird bei einer Vitamin-C-Zufuhr von ≥ 100 mg pro Tag eine Plasmakonzentration von ≥ 50 µM erreicht – jene Konzentration, die in Beobachtungsstudien mit einem verminderten Risiko für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen verbunden war. Eine Vitamin-C-Zufuhr von mehr als 200 mg am Tag führt zu einer weitgehenden Sättigung des Plasmas. Bei diesem Wert sind auch immunkompetente Zellen wie Lymphozyten oder neutrophile Granulozyten optimal mit Vitamin C versorgt. Mit 250-300 mg am Tag lässt sich jene Dosis erreichen, die zur Vorbeugung des grauen Stars (Katarakt) in der Diskussion ist. Eine Zufuhr von ≥ 400 mg pro Tag war in einer systematischen Auswertung mehrerer großer Kohortenstudien (über 290.000 Teilnehmer) mit einem signifikant geringeren Risiko für koronare Herzerkrankungen verbunden. Mit einer Zufuhr von 500-2000 mg Vitamin C am Tag gelangt man schließlich in den unterstützend-therapeutischen Bereich. Eine solche Dosierung wird unter anderem zur Optimierung der Wundheilung nach operativen Eingriffen empfohlen.

Bedeutung für die Praxis

Für eine umfassende Prävention sind im Allgemeinen höhere Zufuhren nötig als zur Vermeidung von klassischen Mangelerscheinungen. Eine Aussage wie „die Zufuhr des Nährstoffs X ist zu hoch/niedrig/angemessen“, ist also immer kontextabhängig zu beurteilen. Die kritische Nachfrage muss lauten: Zu hoch, zu niedrig oder angemessen – in Bezug auf welchen Zielparameter? Unabhängig von der unterschiedlichen Konzeption der Nährstoff-Endpunkt-Beziehung stellt sich die Frage, ob von Mikronährstoffen im Allgemeinen und von entsprechenden Präparaten im Besonderen eine präventive Wirkung ausgeht. Zentral ist hier der Wirksamkeitsnachweis. Vitamine sollten daher nicht nach dem Gießkannenprinzip und getreu dem Motto „viel hilft viel“ ergänzt werden.

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Stichworte: Vitamine, Vitaminbedarf, Nährstoffe, Mangel, Nahrungsergänzungsmittel, Prävention, Osteoporose, Vitamin D, Folsäure, Vitamin C, Krebs, Vitaminzufuhr


Vitamine: Kleine Dosis – große Wirkung Den vollständigen Beitrag lesen Sie in:
UGBforum 4/2020
Vitamine: Kleine Dosis – große Wirkung


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