Essen: Typisch männlich
Interview mit der Ernährungssoziologin Monika Setzwein
Fleisch, Deftiges und stark Gewürztes symbolisieren Männlichkeit. Männer essen zudem genussorientierter und achten weniger auf Kalorien als Frauen. Wir fragten die Soziologin Monika Setzwein, wie es zu diesen Unterschieden kommt.
Wie sehen die typischsten Unterschiede im Ernährungsverhalten von Männern und Frauen aus?
Der auffälligste Unterschied besteht darin, dass Frauen in der Auswahl ihrer Nahrung eine Haltung erkennen lassen, die gemeinhin als gesundheitsbewusst interpretiert wird. Das bedeutet, dass das Ernährungsverhalten von Frauen im Durchschnitt eine größere Nähe zu den propagierten Ernährungsidealen aufweist als das der Männer. Das lässt sich z. B. am höheren Verzehr von Obst und Gemüse sowie einer stärkeren Bevorzugung einer vollwertigen Ernährung ablesen. Bei Männern hingegen ist ein merklich höherer Konsum von Fleisch und Alkohol sowie eine Neigung zu schwerer, energiereicher Kost zu verzeichnen. Interessant ist, dass sich die Geschlechter nicht nur in ihren Nahrungsvorlieben und den tatsächlichen Essgewohnheiten unterscheiden, sondern auch in ihren Einstellungen zum Essen und Trinken. Hier fällt ganz besonders ins Auge, dass Männer deutlich stärker am Genuss orientiert sind. Das heißt, sie essen, was ihnen schmeckt, während Frauen ihr Augenmerk sehr viel häufiger auf Aspekte wie Kaloriengehalt und Gesundheitswert von Speisen legen.
Gibt es für die unterschiedlichen Essgewohnheiten physiologische Gründe?
Es wird zwar hin und wieder versucht, diese Unterschiede auf biologische Gegebenheiten zurückzuführen, z. B. auf einen höheren Energiebedarf bei Männern. Aber selbst wenn sie in Bezug auf einzelne Parameter naturwissenschaftlich abgesichert sein mögen - solche Erklärungsmuster greifen schon allein deshalb zu kurz, weil sie die Ernährung auf ihre physiologischen Funktionen reduzieren. Zweifellos betrifft das Nahrungsgeschehen den Menschen in seiner Eigenschaft als stoffwechselbedürftiger Organismus, als Teil der Natur. Doch zugleich sind Essen und Trinken zutiefst kulturelle Angelegenheiten, die nicht von symbolischen Ordnungen und sozialen Normen losgelöst betrachtet werden können.
Können Sie diesen kulturellen Aspekt etwas näher erläutern?
Ein eingängiges Beispiel hierfür ist die Unterscheidung von essbaren und nicht-essbaren Dingen, die in allen Gesellschaften mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen getroffen wird: Ob Schweinenacken oder Affenhirn - was die einen als Alltagskost oder Delikatesse ansehen, ist den Menschen andernorts ein Greuel. Die kulturelle Dimension der Ernährung ist nicht nur eine Überformung oder bloße Anpassung an naturgegebene Erfordernisse, sondern ein eigenständiger Bereich, der in eigenständigen Kategorien untersucht werden muss. Für die geschlechtstypischen Ernährungsgewohnheiten bedeutet dies, dass sie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Geschlechterarrangements und kultureller Vorstellungen über "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" zu betrachten sind.
Wie kommt es demnach zu den typischen Essstilen?
Geschlechtstypische Essstile bilden sich unter anderem durch abweichende Körperideale und unterschiedliche Sozialisations- und Erziehungsprozesse heraus, die sich auf die Präsentation und das Erleben des eigenen Körpers beziehen. Ernährungsbezogene Handlungen und Einstellungen werden außerdem dazu genutzt, das eigene Geschlecht auszudrücken. Dies lässt sich aus den Ergebnissen der neuen Geschlechterforschung folgern, die ihr Interesse vor allem auf die soziale Konstruktion von Geschlecht richtet. Sie untersucht, auf welche Weise Männlichkeit und Weiblichkeit im sozialen Miteinander hergestellt werden.
Meine These ist, dass das Ernährungsverhalten - von der Auswahl der Speisen über Rituale der Nahrungsverteilung z. B. am Familientisch bis hin zum Körpereinsatz beim Essen selbst - als eine Ressource des Doing gender gelesen werden kann. Darunter versteht man die aktive Herstellung und Kommunikation des eigenen Mann- oder Frauseins. Bestimmte Nahrungsmittel und Umgangsweisen mit der Ernährung werden geschlechtlich codiert und zu Zeichen gemacht, die die Bedeutung "männlich" bzw. "weiblich" tragen.
Wieso trägt Fleisch diesen "männlichen Code"?
Mit dem Stereotyp des "richtigen" Mannes verbindet sich ein Ernährungsverhalten, das gekennzeichnet ist durch eine Vorliebe für starke Kost: sättigend, deftig, stark gewürzt und mit Biss. Weniger geschätzt werden Speisen, die als mild, leicht, lau oder irgendwie labberig gelten. Gerichte, die mit "statusniederen" Gruppen wie Frauen, Kindern, Alten oder Kranken assoziiert werden, kommen als "männliche" Nahrung kaum in Betracht. Ein herausragendes Symbol für Männlichkeit ist in vielen Gesellschaften das Fleisch. Es ist wie kein anderes Nahrungsmittel von einer Aura umgeben, in der sich Macht, Stärke und Potenz zu einer quasi magischen Einheit verdichten.
Diese Vorstellungen rühren vom Mythos der Einverleibung animalischer Lebenskraft her: Ein Stück Fleisch auf dem Teller bedeutet, aus dem Kampf mit der Natur als Sieger hervorgegangen zu sein. Diese greifbare Verkörperung von Herrschaft und Unterwerfung der Natur kann zugleich auch als Dokumentation einer Unterwerfung von Frauen gedeutet werden. Deren angebliche "Naturhaftigkeit" wurde ja lange Zeit der "Kultiviertheit" von Männern entgegengesetzt. Diese Eigenschaft als natürliches Symbol der Macht ist einer der Gründe, warum sich Fleisch so gut zur Markierung von Männlichkeit eignet.
Welche Bedeutung messen Männer dem Essen und Trinken in ihrem Leben bei?
Essen wird von Männern vor allem als Quelle der Lust und Befriedigung erlebt. Es besitzt daher in ihrem Leben einen deutlich positiven Stellenwert. Psychologische Studien haben z. B. gezeigt, dass männliche Jugendliche für eine gute Mahlzeit gern alles stehen und liegen lassen und sich nach dem Essen besonders kräftig und fit fühlen. Solche Aussagen finden sich bei Mädchen und Frauen weitaus seltener. In ihrem Leben ist die Ernährung eher ein zweischneidiges Schwert, weil statt Lust eher ein Kontrollverhalten aufkommt.
Gibt es Unterschiede in den sozialen Schichten?
Auch wenn tendenziell typische "männliche" und "weibliche" Ernährungsstile ausgemacht werden können, beeinflussen natürlich auch andere Variablen den Ernährungsstil. Dazu zählen beispielsweise Schicht, Milieu, Alter und ethnische Herkunft. Der Einfluss von Faktoren wie Bildung und Einkommen auf das Ernährungsverhalten ist vielfach dokumentiert und fällt bei beiden Geschlechtern ins Gewicht. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass das Ernährungsverhalten von Frauen generell weniger von der sozioökonomischen Situation beeinflusst ist als das der Männer. Insgesamt scheinen die Geschlechtsunterschiede bei den Essgewohnheiten stärker ausgeprägt zu sein als die Schichtunterschiede. Hier besteht aber noch weiterer Forschungsbedarf.
Unterscheidet sich der männliche vom weiblichen Geschmack?
Der Geschmack lässt sich als eine Art sozialer Orientierungssinn interpretieren. Er versetzt die Menschen in die Lage, mit sozialen Differenzen umzugehen, indem sie spüren, was für sie "passend" ist - ganz gleich, ob es sich dabei um die Kleidung, die Freizeitbeschäftigung oder die Ernährungsweise handelt. Der Geschmack ist entgegen dem Alltagsverständnis keine zutiefst individuelle Angelegenheit. Er ist eine Art einverleibtes Prinzip, das auf der Basis der Ungleichverteilung ökonomischer, kultureller und sozialer Ressourcen entsteht und unterschiedliche Lebensstile erzeugt. Die unterschiedlichen Geschmäcke der Geschlechter beim Essen und Trinken, also z. B. die deutliche männliche Präferenz für Fleischgerichte, Eier oder Bier und auf der anderen Seite die weibliche Neigung zu Salat, Quark, vegetarische Speisen und Süßigkeiten, müssen demnach im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen und symbolischen Ordnungssystemen gesehen werden, welche sich in das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Beurteilen einschreiben. Auf diese Weise bildet sich ein jeweils geschlechtstypischer Habitus heraus, der die Grundlage für geschlechtstypische Verhaltensweisen darstellt. Durch ihren Geschmack verorten sich Menschen im sozialen Raum, ohne dass ihnen die Verwobenheit ihrer geschmacklichen Urteile mit den Gesellschaftsstrukturen bewusst ist.
Wie sieht es mit dem Ernährungswissen von Mann und Frau aus?
Verschiedene Untersuchungen belegen, dass Frauen meist über ein besseres Ernährungswissen verfügen. Sie bewerten eine gesunde Ernährungsweise insgesamt positiver als Männer und sind auch eher bereit, das eigene Essverhalten entsprechend zu verändern. Allerdings entpuppt sich die viel zitierte Gesundheitsorientierung von Frauen bei genauerem Hinsehen weitgehend als Streben nach Attraktivität. Frauen benutzen ihr so genanntes Gesundheitsbewusstsein dazu, ihren Körper nach dem gängigen Schlankheitsideal zu formen. Das als "gesundheitsbewusst" interpretierte Essverhalten verkehrt sich dann nicht selten in sein Gegenteil, nämlich in einen restriktiven, überkontrollierten Ernährungsstil bis hin zu Essstörungen wie Bulimie oder Magersucht.
Aber der gesellschaftliche Druck macht doch sicher auch vor Männern nicht halt?
Der Druck auf die Männer, ihren Körper im Sinne gängiger Jugend- und Schönheitsideale zu manipulieren, wächst ohne Zweifel. Anders als bei den Frauen steht auf Seiten der Männer jedoch die sportliche Betätigung bei der Produktion von "Schönheit" im Vordergrund. Es lässt sich aber feststellen, dass zunehmend auch junge Männer an Essstörungen, vor allem an Magersucht, erkranken. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass solche Störungen bei Männern ebenso häufig auftreten werden wie bei Frauen, weil der Umgang mit dem eigenen Körper unterschiedlich sozial eingespurt ist: Für Mädchen und Frauen stellt das Diätverhalten ein grundlegendes Element bei der sozialen Herstellung von Geschlecht dar. Ihre soziale Anerkennung hängt in hohem Maße von einer gelungenen Körpermanipulation ab. Für Jungen und Männer ist dagegen das sportliche Körpertraining ein Ausdruck von Leistungsfähigkeit und bewirkt somit eher eine positive Verstärkung. Außerdem definiert sich die männliche Attraktivität weitaus weniger als die weibliche über das körperliche Erscheinungsbild: beruflicher Erfolg, Geld, Statussymbole und Machtpositionen können äußerliche Mängel wie Bauch und Halb-glatze wett machen. Für Frauen gilt dies nicht.
Frau Setzwein, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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UGB-Forum 6/01, S. 315-317Foto: Rainer Sturm / pixelio.de