Hunger – Klima – Artenschutz
Ernährungswende jetzt!
Hunger in der Welt, Klimakatastrophen und Artensterben machen deutlich: Die Land- und Ernährungswirtschaft kann nicht so weitermachen wie bisher. Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft fordert daher eine umfassende Ernährungswende – und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.
Die deutsche Agrarindustrie setzt auf intensive Landwirtschaft mit chemisch-synthetischem Dünger, Pflanzenschutzmitteln, Monokulturen, importierten Futtermitteln und industrieller Tierhaltung. Doch mit dieser Ausrichtung lassen sich die Herausforderungen der Zukunft nicht in den Griff bekommen. Fast eine Milliarde Menschen weltweit hungert, eine knappe weitere Milliarde ist unter- oder fehlernährt. Fast ebenso viele Menschen sind überernährt und belasten die staatlichen Gesundheitssysteme mit Kosten in Milliardenhöhe. Zudem hat die derzeitige Land- und Ernährungswirtschaft gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Etwa 40 Prozent aller menschengemachten CO2-Emissionen entstehen bei der Produktion und Verarbeitung, beim Transport, Verbrauch und bei der Entsorgung von landwirtschaftlichen Gütern. Milliarden Nutztiere fristen ein nicht tiergerechtes Leben. Eine falsche oder zu intensive Landbewirtschaftung zerstört tagtäglich tausende Hektar fruchtbares Ackerland unwiederbringlich. Während 70 Prozent des Wassers weltweit in die Landwirtschaft fließen, haben mehr als 700 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Jährlich gehen 1,3 Milliarden Tonnen Nahrung entlang der Wertschöpfungskette verloren – allein 222 Millionen Tonnen landen im Müll. Hunderte uralte Tierrassen und Pflanzenarten weichen einigen wenigen Hochleistungsspezies. Auf den landwirtschaftlichen Flächen finden immer weniger Wildtiere und -pflanzen wegen des zunehmenden Einsatzes von Ackergiften und riesigen Monokulturen einen Rückzugsraum.Jede dieser Wirkungen ist Grund genug für einen Wandel. Jeder Verlust an Boden, sauberem Wasser, Luft und Artenvielfalt, jede Lebensmittelverschwendung lässt sich weder vor den Hungernden noch vor den nächsten Generationen rechtfertigen. Da die landwirtschaftliche Produktion einen entscheidenden Einfluss auf genau die Ressourcen hat, auf die sie selbst angewiesen ist, muss sie nachhaltig werden. Aber wie sieht eine wirklich nachhaltige Produktion aus? Wie lässt sich genügend Nahrung guter Qualität dort erzeugen, wo sie gebraucht wird?
Ressourcenschutz durch Kreislaufwirtschaft
In allen Bereichen der Lebensmittelproduktion gibt es nachhaltige Projekte, die den Weg in die Zukunft weisen. Damit sich alle Menschen mit genügend gesundem, nachhaltig erzeugtem Essen versorgen können, sind Know- how, politischer Wille, Investitionen und die Unterstützung der Konsumenten gefragt. Was wir brauchen, ist deshalb nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Ernährungswende.Olivier de Schutter, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, sieht die Lösung der Hunger- und Klimakrise in einer agrarökologischen Entwicklung. An die Stelle einer inputintensiven und rationalisierten Landbewirtschaftung müssen wissensintensive Systeme wie der Ökolandbau oder die Permakultur treten. Gemeinsame Grundlage aller agrarökologischen Ansätze ist die Kreislaufwirtschaft, die gesunde Böden und damit sichere Erträge fördert. Neueste Kalkulationen zeigen, dass sich auf diese Weise genügend Lebensmittel für die derzeitige Weltbevölkerung produzieren lassen. Voraussetzung, um eine ökologische Kreislaufwirtschaft zu etablieren, ist Gerechtigkeit. Umwelt- und andere gesellschaftlich relevante Kosten, die bei der Produktion von Lebensmitteln entstehen, müssen den Verursachern zugeordnet werden. Nur dann sind die kostenintensiveren ökologischen Systeme konkurrenzfähig. Die Politik kann und muss diesen Prozess steuern. Sinnvoll sind beispielsweise Abgaben auf synthetischen Stickstoff, Pestizide oder importiertes Eiweiß. Mit den Einnahmen könnten besonders nachhaltige Produktionssysteme gefördert werden.
Das Recht auf Nahrung garantieren
Obwohl genügend Lebensmittel weltweit erzeugt werden, kann das Recht auf Nahrung bisher nicht allen Menschen garantiert werden. Hier hat die Weltgemeinschaft versagt. Weder eine Steigerung der Produktion noch der Export von Nahrungsmitteln in die Länder des Südens wird Abhilfe schaffen. Das Hungerproblem ist vielmehr dort zu lösen, wo die meisten Menschen zu wenig zu essen haben: auf dem Land. Ernährungssouveränität kann nur hergestellt werden, wenn es gelingt, in den ländlichen Regionen der Schwellen- und Entwicklungsländer stabile, politische Verhältnisse zu etablieren und den Menschen landwirtschaftliches Know-how sowie einen gesicherten Zugang zu Ackerland und lokalen Märkten zu ermöglichen. Politik und Verwaltung sollten eine regional angepasste, humusbasierte und ökologisch intensivierte Kreislaufwirtschaft fördern. Auch in den Ländern des Südens ist Gerechtigkeit die Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation. Den Entscheidungsträgern der Industrienationen muss es gelingen, wettbewerbsverzerrende Subventionen gänzlich abzuschaffen. Der Börsenhandel mit Nahrungsmitteln muss reguliert und der Landwirtschaft innerhalb der WTO-Handelsregeln ein Sonderstatus eingeräumt werden.
Nur noch artgerechte Tierhaltung
Wer über nachhaltige Systeme der Landwirtschaft nachdenkt, kommt nicht an der Tierhaltung vorbei. Schließlich spiegelt die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihren Nutztieren umgeht, ihre ureigenen Wertvorstellungen. Nur wenn es gelingt, die Weichen so zu stellen, dass Nutztiere artgerecht gehalten werden, ist die Ernährungswende gelungen. Anreize zur Tierhaltung dürfen deshalb künftig nur noch gewährt werden, wenn sie dazu beitragen, dass Tiere genügend Platz im Stall, ausreichend Auslauf, artgerechtes Futter und natürliches Licht haben. Die Öko-Tierhaltung gibt gute Beispiele, wie mehr Tierwohl aussehen könnte.
Doch was nutzt alle Wende, wenn der Erfolg nur über wirtschaftliche Wachstumsraten definiert wird? Für ein umfassendes Umsteuern muss sich auch die Ökonomie auf ihre eigentliche Funktion besinnen: menschliche Bedürfnisse gezielt und ressourceneffizient zu befriedigen. Dies lässt sich mit einer ökologischen und sozial optimierten Marktwirtschaft am ehesten erreichen. Demokratische Prozesse sind direkt und partizipativ zu gestalten. Ökonomische und technische Best practice-Konzepte müssen als Pionier-Modelle etabliert werden. Erst dann kann eine Ernährungswende Rückhalt in der Gesellschaft finden. Dabei sind alle Kosten miteinzubeziehen, die Ergebnisse einer verpflichtenden betrieblichen Öko-Bilanz steuerlich zu berücksichtigen sowie die Wirtschaftsleistung über den Nationalen Wohlfahrts-Indikator zu messen. Dieser spiegelt umfassender als das Bruttosozialprodukt, wie es um den Wohlstand der Bürger eines Landes bestellt ist.
Ernährungsbildung ist nötig
Die Wende hin zu einer nachhaltigen Ernährungswirtschaft kann nicht nur von Entscheidungsträgern und Produzenten ausgelöst werden. Auch die Bürger sind gefordert, Veränderungen mitzutragen und einzuklagen. Doch auch die schlauesten Kinder und Jugendlichen werden sich nur dann zu mündigen Produzenten und Essern mausern, wenn sie bereits im Kindesalter die Qualität, den Wert und den Genuss von Lebensmitteln kennen und schätzen gelernt haben. Ernährungsbildung gehört daher in Kita und Schule verankert wie Sprachen lernen oder Rechnen.
Die Politik muss die Weichen stellen
Die Notwendigkeit einer nachhaltigen Land- und Lebensmittelwirtschaft in Deutschland wird von den politischen Entscheidungsträgern ganz unterschiedlich gesehen. Eine Befragung der Bundestagsparteien zu den wichtigsten Maßnahmen der Ernährungswende lässt erkennen, dass es bestenfalls in kleinen Schritten vorangeht. Ob das angesichts der drängenden Herausforderungen ein angemessenes Tempo ist, wird sich herausstellen. An der Zustimmung der Bürger für Öko-Lebensmittel, artgerechte Tierhaltung und faires Wirtschaften mangelt es jedenfalls nicht. Das zeigt der wachsende Anteil der verkauften Bio- und Fairprodukte ebenso wie die breite Bewegung für eine andere Landwirtschaft. Die großen „Wir haben es satt“-Demonstrationen in Berlin und die zahllosen Bürgerinitiativen gegen Massentieranlagen machen deutlich, was sich die Bürger wünschen.
Quelle: Moewius J. UGB-Forum 5/13, S. 245-247
Foto: Ökolandbau.de, BLE, Bonn/Foto: Thomas Stephan