Was taugt der glykämische Index?

Diäten, die sich am glykämischen Index orientieren, waren in den vergangenen Jahren die Renner auf dem Buchmarkt. Mit den kohlenhydratarmen Ernährungsplänen lassen sich zwar kurzfristig überflüssige Pfunde abspecken. Ob sie als dauerhafte Kost geeignet sind, ist jedoch fraglich.

glykämischer Index - Kohlenhydrate

Kohlenhydrate sind nicht gleich Kohlenhydrate. Dieser Leitgedanken liegt verschiedenen Abnehmdiäten zu Grunde, wie der LOGI-Methode des Ernährungswissenschaftlers Nicolai Worm, der GLYX-Diät von Marion Grillparzer oder auch dem Ernährungskonzept des Franzosen Michel Montignac. Ganz oben auf ihren Diätplänen stehen Lebensmittel mit einem niedrigen glykämischen Index, kurz GI genannt. Dieser gibt die Blutzuckerwirksamkeit kohlenhydrathaltiger Lebensmittel an. Kohlenhydrate mit niedrigem GI wie die meisten Obst- oder Gemüsesorten lassen den Blutzucker nur langsam ansteigen. Weißbrot, Kartoffeln und Süßigkeiten erhöhen die Blutzuckerwerte dagegen sehr rasch.


Mit Glyx-Diäten schneller abnehmen?

Übergewichtige nehmen mit Diäten, die den glykämischen Index reduzieren, tatsächlich schneller ab als mit Diäten, die den Fettverzehr einschränken. In den ersten sechs Monaten ist die Gewichtsabnahme um vier bis sechs Kilogramm höher. Zu diesem Ergebnis kommt eine Übersichtsarbeit von 107 Studien über kohlenhydratarme Diäten. Aber nur fünf Studien liefen über mehr als drei Monate. Entscheidend für den Erfolg einer Diät ist aber nicht die anfängliche Gewichtsabnahme, sondern ein langfristig stabiles Gewicht. So zeigen zwei neuere Studien, dass eine fettreduzierte Kost den anfänglichen Erfolg einer Low-carb-Diät im Laufe eines Jahres wieder aufholt. Andere Studien entdeckten einen Zusammenhang zwischen einer Ernährung mit hoher glykämischer Last und einem erhöhten Risiko für Typ 2 Diabetes, koronare Herzerkrankungen und verschiedene Krebsarten. Deshalb ist es vermutlich auch für gesunde Menschen günstig, Kohlenhydrate mit niedrigem glykämischem Index zu bevorzugen – zumindest theoretisch. Denn in der Praxis offenbart das GI-Konzept Schwächen.

Glykämischer Index und glykämische Last

Der glykämische Index wird in Prozent ausgedrückt. Um ihn zu ermitteln, wird der Verlauf des Blutzuckeranstieges nach Verzehr von 50 Gramm Kohlenhydraten aus einem Lebensmittel gemessen. Als Vergleichswert wird der Blutzuckeranstieg nach Aufnahme von 50 Gramm Glucose ermittelt. Dieser Referenzwert wird gleich 100 Prozent gesetzt. Kohlenhydrathaltige Lebensmittel, die einen schnellen und/oder hohen Blutzuckeranstieg auslösen, haben somit einen hohen glykämischen Index. Da das Ausmaß der glykämischen Reaktion auch von der Kohlenhydratmenge abhängt, wurde die glykämische Last (GL) definiert. Ihre Größe berechnet sich aus dem Produkt des GI und der Kohlenhydratmenge (in Gramm) pro Portion eines Lebensmittels. Eine Banane hat einen GI von 52. Eine Portion von 125 g liefert 25 g verwertbare Kohlenhydrate. GL = 0,52 x 25 g = 13

Schlägt man in Tabellenwerken zum glykämischen Index nach, überraschen einige Daten selbst Ernährungsexperten. So zeigen manche eher als gesund geltende Gemüse- und Obstsorten im Vergleich zu reinen Kohlenhydratträgern relativ hohe GI-Werte: Karotten 47, Ananas 59 und Wassermelonen sogar 72. Damit unterscheiden sie sich kaum von Weißbrot (70) oder weißem Reis (64), die als ungünstig gelten. Grund für diese scheinbare Schieflage ist, dass die genannten Gemüse- und Obstsorten relativ wenig Kohlenhydrate enthalten. Die Definition des glykämischen Index bezieht sich aber immer auf 50 Gramm Kohlenhydrate. Um auf diese Menge zu kommen, müsste man über 800 Gramm Karotten oder Wassermelone essen. Solche Portionen gehen an der Praxis völlig vorbei. Um den GI auf realistische Mengen anwenden zu können, ist die Angabe der glykämischen Last (GL) sinnvoller. Dieser Wert beschreibt die glykämische Gesamtbelastung einer tatsächlich verzehrten Portion. Eine Portion weißer Reis (150 g) hat beispielsweise eine glykämische Last von 28, Wassermelonen kommen auf 6, Karotten sogar nur auf einen GL-Wert von 3.

glykämischer Index

Genaue Angaben zum glykämischen Index nicht möglich

Das umfassendste Tabellenwerk mit Angaben zum glykämischen Index beziehungsweise zur gly­kämischen Last haben bislang australische Forscher veröffentlicht. Für den Verbraucher ist dieses unübersichtliche Tabellenwerk mit über 750 Messdaten kaum brauchbar. Die Messwerte der verschiedenen Quellen schwanken für ein und dasselbe Lebensmittel teilweise erheblich. Dafür gibt es viele Gründe. Die experimentell ermittelten Werte können individuell sehr unterschiedlich ausfallen. Das heißt, ein Brötchen oder eine Banane lösen nicht bei jedem Menschen den gleichen Blutzuckeranstieg aus. Selbst bei der gleichen Testperson können Messungen an verschiedenen Tagen unterschiedliche Werte liefern. Zwei Studien zeigen intraindividuelle Schwankungen von 23 bzw. 54 Prozent. Reifegrad, Anbaugebiet und Sorte von Obst und Gemüse beeinflussen den GI-Wert ebenfalls. Bei Reis liegen die Angaben je nach Sorte zwischen 27 und 139. Hierfür sind vor allem die unterschiedlichen Anteile der Stärkebausteine Amylose und Amylopektin verantwortlich, die der Körper verschieden schnell in Zuckerbausteine zerlegt.
Vertreter des GI-Konzepts halten dieser Kritik entgegen, dass sich von den Werten sehr wohl ablesen lasse, welche Lebensmittel eine starke und welche eher eine schwache Blutzuckerreaktion auslösen. Und diese Tendenz sei für alle Menschen gleich. Noch schwieriger ist es, mit Hilfe von GI-Werten den Blutzuckeranstieg einer kompletten Mahlzeit vorauszusagen. Denn Fette, Proteine und Ballaststoffe bremsen das Tempo, mit dem Kohlenhydrate ins Blut gehen.

glykämischer Index - glykämische Last

Begleitstoffe mindern Blutzuckerreaktion

Fette verlangsamen die Aufnahme von Kohlenhydraten ins Blut. Die Messwerte einer dänischen Studie verdeutlichen diesen Effekt anschaulich: Im Vergleich zur Referenzmahlzeit Weißbrot kommt bei der Testmahlzeit Weißbrot mit Butter lediglich Fett, aber keine weiteren Kohlenhydrate hinzu. Statt eines rechnerischen GI-Wertes von 100 ergibt sich nur ein GI von 49. Werden Proteine zusammen mit Kohlenhydraten gegessen, fällt die glykämische Antwort ebenfalls niedriger aus. Denn Proteine steigern die Insulinausschüttung zusätzlich. Das Insulin sorgt dafür, dass die vom Darm ins Blut aufgenommene Glucose schnell in die Zellen abtransportiert wird und die Blutzuckerkurve somit weniger stark ansteigt. Der Effekt von Ballaststoffen auf den GI ist noch nicht eindeutig geklärt. Offenbar verzögern lösliche Ballaststoffe die Blutzucker­antwort. Dabei scheint weniger der absolute Gehalt an Ballaststoffen entscheidend zu sein, sondern vielmehr ihre natürliche Anordnung im Lebensmittel. Die löslichen Ballaststoffe umschließen im botanischen Verbund Stärkekörnchen und bilden so eine physikalische Barriere für die Verdauungsenzyme. Der geringere GI-Wert von Brot mit ganzen Körnern im Vergleich zu Vollkornbrot unterstützt diese Vermutung. Auch die fast identischen Werte von Weizenbrot aus Vollkorn- (71) und Auszugsmehl (70) sprechen für die These, dass Ballaststoffe den GI nur im botanischen Verbund herabsetzen.

Low-CArb-Diäten im Alltag wenig praktikabel

Weiteren Einfluss auf den Verlauf der Blutzuckerkurve nimmt der Verarbeitungsgrad und die Zubereitung. Erhitzen und Kochen machen Kohlenhydrate (Stärke) leichter verfügbar. Beispielsweise haben al dente gekochte Hartweizennudeln, die nur 5 Minuten garen, einen GI von 37. Bei 10-15 Minuten steigt der GI auf 44 und nach 20 Minuten kochen sogar auf 61. Rohe Karotten bringen es auf einen GI von 16, gekocht steigt der Wert auf 49. Auch der Zerkleinerungsgrad wirkt auf die glykämische Reaktion. Kartoffelbrei hat beispielsweise einen höheren GI als ganze gekochte Kartoffeln. Speziell bei Kartoffeln gibt es extreme Abweichungen. Je nach Sorte und Garzeit wurden GI-Werte zwischen 56 und 101 gemessen.Um diesem Dilemma entgegenzutreten und die Lebensmittelauswahl nach dem GI-Konzept alltagstauglich zu gestalten, wurden drei Kategorien geschaffen: Lebensmittel mit hohem (GI >70), mittlerem (GI 55-70) und niedrigem (GI <55) glykämischen Index (siehe Tabelle). Eine wissenschaftliche Begründung für diese willkürlich gezogenen Grenzen gibt es nicht.

Glykämischer Index: Verschiedene Faktoren nehmen Einfluss

Abgesehen von den aufgeführten Schwachpunkten zur Genauigkeit der GI-Werte und der praktischen Anwendung kann das GI-Modell durchaus Hinweise auf die ernährungsphysiologische Qualität von kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln geben. Auch die Menge der Kohlenhydrate zu reduzieren kann sinnvoll sein, insbesondere für Übergewichtige mit jahrelanger Vorliebe für Süßes. Besonders manchen übergewichtigen Männern, die gerne Fleisch essen, fällt es offensichtlich leichter, Gemüse mit Eiweißträgern zu kombinieren als mit Kohlenhydratträgern. Das erleichtert es vielen Patienten, eine Diät nach dem GI-Konzept durchzuhalten. Den Speiseplan aber allein nach dem glykämischen Index auszurichten, ist nicht sinnvoll. Fleisch, Milchprodukte oder Öle enthalten keine oder kaum Kohlenhydrate und beeinflussen die Blutzuckerreaktion daher nur indirekt als Bestandteil einer Mahlzeit. Sie in unbegrenzten Mengen zu essen, ist sicher nicht empfehlenswert. Zudem hängt der Erfolg einer Gewichtsreduktion nicht allein von der Lebensmittelauswahl ab. Essmuster, Geschmacksvorlieben und vor allem körperliche Aktivität bestimmen den Erfolg einer Diät wesentlich mit.

Glykämischer Index: Bewertung des UGB
Der hohe Obst- und Gemüseanteil und die Bevorzugung von Vollkornprodukten in Ernährungskonzepten, die sich nach dem glykämischen Index richten, sind zu begrüßen. Allerdings ist es nicht sinnvoll, Lebensmittel allein nach dem Kriterium der Blutzuckerwirksamkeit zu beurteilen. Kohlenhydratarme bzw. -freie Produkte lassen sich darüber nicht bewerten. Eine zu protein- und fettreiche Ernährung ist nicht ausgeschlossen.

Onlineversion von: Weigt S.: UGB-FORUM Spezial: Ernährungsrichtungen aktuell bewertet 2007, S.39-41
Foto: DAK/Hanuschke + Schneider